Barbara Fischer-Bartelmann (2006): Pesso-Therapie und Systemische Therapie. In: Psychotherapie 11/1 S. 97-110 Seite 17

Pesso-Therapie und Systemische Therapie


Pesso-Therapy (PBSP) and Systemic Therapy


Barbara Fischer-Bartelmann


Zusammenfassung:

Wie ich in diesem Artikel zeigen werde, sind Theorie und therapeutische Vorgehensweise der Pesso-Therapie mit systemischem Gedankengut ausgezeichnet kompatibel. Die Pesso-Therapie erlaubt eine Ausweitung des systemischen Ansatzes auch auf solche Systeme, die der Vergangenheit angehören und daher einer direkten Intervention nicht mehr zugänglich sind (Ursprungsfamilie, Mehrgenerationenperspektive). Sie beschreibt differenziert, welche Auswirkungen die dort und damals erlebten, beobachteten oder berichteten Interaktionen einerseits auf die Organisation des individuellen psychischen Systems und andererseits auf Beziehungen hier und jetzt haben. Indem die Pesso-Therapie gezielt alternative Erinnerungen an „heilsame“ Interaktionen in der Ursprungsfamilie konstruiert, beeinflusst sie Symptome auf diesen beiden Ebenen in der Gegenwart analog zu der Weise, wie es eine hypothetische direkte Therapie des damaligen Systems getan hätte.


Schlüsselwörter:

Pesso-Therapie – PBSP – Psychotherapie – Systemische Therapie – Ursprungsfamilie – Mehrgenerationenperspektive


Summary:

I will demonstrate in this article that both theory and therapeutic practice of Pesso-Therapy (Pesso-Boyden System Psychomotor, PBSP) are excellently compatible with the systemic approach and allow its extension even to such systems that belong to the past (family of origin, multi-generational perspective) and are no longer accessible to direct intervention. PBSP gives a detailed account of how interactions which were experienced, observed or reported there and then will affect the organisation of the individual's psyche and consequently also his or her relationships here and now. Via the construction of synthetic memories of alternative „healing“ interactions in the family of origin, PBSP influences present psychological and relational symptoms in a way that is equivalent to the effect of a hypothetical intervention in the past system.


Keywords:

Pesso-Therapy – PBSP – Psychotherapy – Systemic Therapy – Family of Origin – Multi-Generational Perspective


  1. Theoretische Einordnung


Eine der wesentlichen Einsichten der systemischen Therapie besteht darin, dass individuelles Verhalten auf dem Hintergrund und im Kontext des Systems betrachtet werden muss, in dem es seinen Ursprung hat. Dann können sogar die Symptome des „identifizierten Patienten“ in ihrem Dienst für die übergeordneten Regulationsmechanismen als sinnvoll verstanden werden. Aus dieser Einsicht erwächst die Behandlungsstrategie, die Zusammenhänge des Systems – meist der Familie – so zu beeinflussen, dass die Symptome ihre Aufgabe verlieren und aufgegeben werden können. Die Veränderung des Systems zieht also eine Veränderung des „Patienten“ nach sich.


Im Idealfall kann die systemische Therapeutin auf das relevante System direkt Einfluss nehmen, indem sie die ganze Familie zu der therapeutischen Sitzung einlädt. Auch andere relevante Bezugspersonen oder ganze Helferkonferenzen können einbezogen werden. Auf diese Weise wird der gesamte Kontext so umgestaltet, dass eine nachhaltige Erleichterung nicht nur des identifizierten Patienten, sondern meist auch der anderen Systemmitglieder erzielt wird.


Im weniger idealen Fall kann die Therapeutin einen kleineren oder größeren Teil der eigentlich relevanten Personen nicht direkt mit ihren Interventionen erreichen. Ihre Einsicht in die Zusammenhänge der gegenwärtig relevanten Systeme erlaubt es dennoch, mittelbar auf dem Wege über diejenigen Mitglieder, die zur Behandlung motiviert werden können, Einfluss auf die systemischen Wechselwirkungen zu nehmen. Durch Veränderungen auch nur eines Teils der Familienmitglieder wird sich das Ganze verändern und der Weg zu einer Heilung der Symptomträger geebnet. Selbst wenn nur eine einzelne Person zur Therapie erscheint, sei es der Patient selbst, sei es eine relevante Bezugsperson, kann man also systemisch arbeiten.


An eine Grenze stößt dieser Ansatz erst dann, wenn das System insofern nicht mehr beeinflussbar ist, als es nicht mehr existiert. Dies ist dann der Fall, wenn man die Ursprünge des elterlichen (oder großelterlichen) Verhaltens in der Mehrgenerationenperspektive betrachtet. Auch hier gilt schließlich, dass das individuelle Verhalten eine Funktion im System hat. Also muss auch das Erleben und Verhalten der Eltern auf dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensgeschichte, im Kontext des Systems ihrer Ursprungsfamilie verstanden werden. In diesem Fall bleibt der systemischen Therapie nichts anderes übrig, als bei der Diagnostik stehen zu bleiben: Sie kann die Quelle der oft über Generationen hinweg wiederkehrenden Muster erkennen, aber rückwirkend nicht mehr beeinflussen. Eine Verhaltensänderung der Eltern muss trotz ihrer Prägungen in ihren Ursprungsfamilien geschehen, und kann nicht aus der Veränderung der dortigen Mechanismen entspringen.


Diese Lücke füllt die Pesso-Therapie. Augustus Napier (1990) hat sie aus diesem Grund als das „fehlende Bindeglied“ der systemischen Therapie bezeichnet:


"The main requirement for this "missing link" in couples work (or work with any adult client in a family) is a method which allows control in staging and re-staging key family dramas--without requiring that the family of origin change dramatically. In the work of Albert [and Diane] Pesso, whose approach I have described in more detail in The Fragile Bond (Napier, 1988), I have found such a method, and it offers exciting potential to this latter stage of family of origin work."


Zwar kann auch die Pesso-Therapie nicht Geschehenes ungeschehen machen. Aber das, was in die Gegenwart hineinwirkt, sind ja auch nicht mehr auf direktem kausalen Weg die damaligen Ereignisse. Was fortwirkt, sind die Erinnerungen an das damalige Familiensystem, und die Schlussfolgerungen, die das damalige Kind – der jetzige Erwachsene – für sich daraus gezogen hat. Wie auch die Neurophysiologie immer deutlicher erkennt, ist Wahrnehmung unweigerlich immer Erinnerung. Demnach prägen die Erinnerungen an die Interaktionen in der Ursprungsfamilie die Wahrnehmung der gegenwärtigen Interaktionen (siehe Pesso 2004). Und da Verhalten immer eine Auswahl unter möglichen Verhaltensoptionen ist, unter Vorwegnahme der vermutlichen Reaktionen der anderen, prägen die Erinnerungen an das „mögliche“ Verhaltensrepertoire und die Erinnerungen an „wahrscheinliche/zwangsläufige“ Konsequenzen das Verhalten in heutigen Systemen. Wenn es gelingt, alternative „Erinnerungen“ an andere Interaktionserfahrungen zu erzeugen, dann können diese zur Grundlage alternativer Wirklichkeitskonstruktionen in der Gegenwart werden.


In diesem Sinne kann man die Pesso-Therapie als eine systemische Therapie auffassen. Auch hier wird die Veränderung der einzelnen Person auf dem Wege über die Veränderung des Systems erzielt, nur dass es sich hier um das „virtuelle“ System in ihren Erinnerungen handelt, nicht um das damals in der Vergangenheit existierende System. Statt Einfluss auf die realen Personen zu nehmen, die in diesem Fall ja oft nicht mehr am Leben und für die Therapie nicht mehr erreichbar sind, kann die Pesso-Therapie die Objekt-Repräsentationen beeinflussen, so dass die Erinnerung an die historischen Personen und Ereignisse ihre Ausschließlichkeit und damit ihren fortwährend prägenden Charakter verliert.


In der Pesso-Therapie wird in einer „Struktur“ genannten therapeutischen Arbeit zunächst mit Hilfe des „Microtracking“ minutiös abgebildet, in welcher Weise die gegenwärtige Situation erlebt wird („Wahre Szene“). Die hierbei verwendeten Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster gehen so gut wie immer auch auf kindliche Interaktionserfahrungen zurück, die in der „historischen Szene“ deutlich werden können. Und in der so genannten „heilenden Szene“ können dann gezielt hierzu alternative Interaktionserfahrungen ermöglicht werden. Der Klient konstruiert im symbolischen Kontext der Therapie (mit Rollenspielern, Gegenständen oder in der Imagination) eine heilsame synthetische Erinnerung an solche Interaktionen, wie sie zum Zeitpunkt und im Kontext der ursprünglichen historischen Interaktion hätten geschehen können und sollen, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Auf der Basis dieser symbolischen Erfahrungen in der „Antidot-Szene“ erhält „ganz von selbst“ das gegenwärtig Wahrgenommene eine andere Bedeutung. Diese veränderten inneren Landkarten erlauben auch im gegenwärtigen System alternative Wahrnehmungen und Verhaltensoptionen, eine veränderte eigene Identität und die Antizipation anderer, positiver Interaktionen.


  1. Interaktion als zentrales störungsätiologisches Konzept der Pesso-Therapie


Auch als Einzeltherapie verfolgt also die Pesso-Therapie den systemischen Ansatz, die bestimmenden Einflüsse des Familiensystems zu identifizieren (und nachfolgend zu verändern), die zu den gegenwärtigen Symptomen der einzelnen Klientin beigetragen haben. Als erstes werde ich die Auswirkungen unmittelbar selbst erlebter Interaktionen auf das gegenwärtige individuelle und interpersonale System darstellen. Danach komme ich auf den Einfluss beobachteter Interaktionen auf die „innere Landkarte“ und werde danach darstellen, welche Auswirkungen sogar die bloße Kenntnis signifikanter Beziehungskonstellationen aus Berichten und Erzählungen auf die innere Organisation der Psyche hat. Besonderes Gewicht haben jeweils die Interaktionen in der Ursprungsfamilie, da diese in der Regel den frühesten, emotional bedeutsamsten und kontinuierlichsten Kontext in der Lebensgeschichte bildet. Auch andere Interaktionen (Schule, Peer-Group etc.) können aber von Bedeutung sein.


2.1. Direkte Interaktionserfahrungen in der Ursprungsfamilie: Form und Passform bzw. Gegenform


Menschen, ganz besonders aber Kinder, erfahren erst in der Interaktion, wer sie sind. Genau wie das Körperschema aufgrund von Berührungsreizen, also aufgrund der Interaktion des Körpers mit seiner physikalischen Umwelt, aufgebaut wird (und verschwimmt, wenn diese Interaktion unterbunden wird), so wird auch das Bild der eigenen Person aus den Erfahrungen konstruiert, die in den Begegnungen mit der äußeren (hier nicht nur physikalischen sondern im wesentlichen sozialen Umwelt) verlaufen (vgl. Schrenker und Fischer-Bartelmann 2003).


Das Kind wird in dieser Umwelt mit Reizen konfrontiert, die seinem Sinnesapparat, seiner körperlichen und entwicklungspsychologischen Konstitution entsprechen und diese zu weiterer Ausdifferenzierung anregen – oder sie überwältigen bzw. deprivieren. Es fühlt eine Emotion, und diese Emotion wird von den Bezugspersonen adäquat identifiziert, benannt und beantwortet – oder nicht. Es hat ein Bedürfnis, und dieses Bedürfnis wird von den Eltern erkannt, bejaht und erfüllt – oder nicht. Es versucht, auf die anderen Personen, auf die Außenwelt einzuwirken und erfährt, dass ihm dies gelingt – oder dass dieser Versuch vergeblich bleibt.


Im Idealfall entsprechen die äußeren Reize (rechte Seite der Graphik) auf das Genaueste der Aufmerksamkeit und Neugier, den Empfindungen, Bedürfnissen und Impulsen des Kindes (linke Seite). Die Interaktion ist diejenige zwischen der „Form“ des Kindes und einer „Passform“ hierzu:



Aus dieser gelungenen Interaktion bildet das Kind das Bild seiner selbst, das Ich oder Ego, wie es in der blauen gestrichelten Linie angedeutet ist. Die Erfahrung, dass seine Außenwelt mit all diesen seinen Lebensäußerungen adäquat umgehen kann, und es selbst damit gute, befriedigende Erfahrungen macht, integriert das Kind und formt daraus ein Selbstbild, das keine dieser Regungen ausblenden oder umformen muss. Das aus den Begegnungen mit der Außenwelt konstruierte Ich ist weitgehend deckungsgleich mit der ursprünglichen Form seines Wahren Selbst. Die äußere Befriedigung wird integriert und bildet die Grundlage einer gesunden Autonomie, die die Fähigkeit der Selbstfürsorge ebenso einschließt wie die Fähigkeit, in der Zukunft befriedigende Interaktionen gebend und nehmend zu gestalten.


Die Realität bleibt hinter diesem Ideal immer ein Stück weit zurück. Aus der Sinnesphysiologie ist bekannt, dass sich beim Ausbleiben bestimmter Sinnesreize in einer kritischen Phase die zu deren Verarbeitung notwendigen Gehirnstrukturen nicht bilden, und dass bei sozialer Deprivation der Frontalcortex weniger ausdifferenziert wird. Analog geht die Pesso-Therapie davon aus, dass in dem Ausmaß, in dem die Interaktion der ursprünglichen Form der Seele nicht enspricht, das Ich in Entsprechung zu diesen Erfahrungen in einer Weise ausgeformt wird, die dem Wahren Selbst hingegen entfremdet ist:




Wird die Empfänglichkeit für und Neugier auf Sinnesreize in einer verarmten Umgebung frustriert, so lässt sie nach. Werden Gefühle nicht oder falsch identifiziert, so hat das Kind keine Möglichkeit, sie in seiner Selbstwahrnehmung auszudifferenzieren oder Bewusstsein dafür zu entwickeln. Werden Bedürfnisse nicht erfüllt, so erlebt das Kind Frustration und wird sich schwer tun, die ensprechenden Sehnsüchte in sich zu bejahen und mit Optimismus und Hoffnung auf Befriedigung zu verbinden. Bleiben Versuche der Einwirkung auf die Außenwelt erfolglos, so lernt das Kind Hilflosigkeit und entwickelt nicht nur von der Außenwelt, sondern auch von sich selbst ein ensprechendes Bild. Diese Effekte sind im mittleren Bereich durch die gestrichelte Linie angedeutet, die die Impulse des Selbst nicht mehr nachzeichnet. Kommt es wiederholt zu Erfahrungen von Grenzüberschreitung, durch Überflutung mit Reizen oder gar durch Übergriffe oder Verletzungen, so bleibt die Umhüllung des Selbst mit Ego lückenhaft, oder es müssen ganze Anteile der eigenen Person und der eigenen Empfindungen ausgeblendet bleiben (Dissoziation). Dies ist im unteren Drittel der Graphik dargestellt.


Das bewusste und bewusstseinsfähige Ich kann also als ein Abbild von Beziehungserfahrungen verstanden werden: Das individuelle System stellt in gewisser Weise eine Aufzeichnung von Interaktionen im realen äußeren System der Ursprungsfamilie dar. Das Ausmaß an Lust oder Unlust in den realen Interaktionen ist dabei nicht nur ein Maß dafür, inwieweit die Außenwelt dem Kind eine Passform bietet. Gleichzeitig ist es ein Prädiktor dafür, inwieweit das als Essenz daraus herausgebildete Ich dem Wahren Selbst entspricht, und damit auch bestimmend für die spätere Fähigkeit zu Wohlgefühl, Befriedigung, Verbundenheit und Hoffnung.


2.1.1. Auswirkungen auf das individuelle System


Die Diskrepanz zwischen Form und Gegenform (empfunden als Frustration, Unlust und Schmerz) ist aber gleichzeitig für das Individuum eine Abweichung vom „Sollwert“, macht also eine Regulation der individuellen Homöostase notwendig.


Dies kann zum einen durch all die Mechanismen geschehen, die in der Psychoanalyse als Abwehr- oder Verdrängungsmechanismen (Rationalisierung, Retroflexion, Verdrängung, Abspaltung etc.) bekannt sind und in einer Struktur in der Regel als „Stimmen“ identifiziert werden. Sie können sich auf die Gegenform beziehen (Stimme der Vernünftigkeit: „Sie konnte halt nicht anders!“) oder auf die Form (Stimme des Selbst-Vorwurfs: „Du verlangst zu viel, du solltest nicht zu ansprüchlich sein!“) bis hin zur Stimme der Spaltung „Spüre nichts, brauche nichts!“ Nebenbei bemerkt bringt diese Interventionstechnik der „Stimmen“ in der Pesso-Therapie eine Selbstaussage „Ich brauche nichts“ in die Form einer Anweisung von außen: „Brauche nichts!“, fasst damit eine scheinbar nicht-interaktive Aussage wieder in eine interaktive Form und bringt sie damit gewissermaßen wieder ein Stück näher zurück zu ihrem interaktiven Ursprung.


Zum zweiten wird, auch zur Vermeidung wiederholter schmerzhafter Erfahrungen, das innere Abbild der Welt, die innere Landkarte, den Interaktionserfahrungen angepasst. In diesen Bereich fallen die automatischen Gedanken und Grundannahmen der Kognitiven Therapie. Dort werden sie als der Veränderung kaum zugänglich aufgefasst (Beck et al. 1992), was die Pesso-Therapie darauf zurückführt, dass sie auf bedeutsamen Interaktionserfahrungen fußen. In einer Pesso-Struktur werden sie gefasst als Stimme der Wahrheit: „Du kannst dich auf niemand verlassen“, Stimme der negativen Vorhersage: „Das wird bestimmt wieder nichts!“, Stimme der Warnung: „Wenn du dich mit diesem Wunsch zeigst, wirst du abgelehnt.“ In einer weiteren Verarbeitungsstufe finden wir auch Stimmen der Überlebensstrategie: „Zeige dich stark, dann sieht niemand, wie bedürftig und verletzlich du tatsächlich bist!“ Die kognitive Therapie betrachtet solche Grundannahmen als der Therapie schwer zugänglich, was nach Ansicht der Pesso-Therapie daran liegt, dass sie tief verwurzelt sind in erinnerten Interaktionen. Um sie zu verändern, ist es daher unverzichtbar, zur Ermöglichung alternativer Grundannahmen ebenso mächtige alternative Erinnerungen zu konstruieren, die hoffnungsvolleren Grundannahmen Basis und Beleg sind. Und um ebenso mächtig zu sein, müssen sie ebenso weit in der Vergangenheit und in ebenso bedeutungsvollen Beziehungskontexten angesiedelt sein. Daher lokalisiert die Pesso-Therapie diese synthetischen Erinnerungen in der hypothetischen Vergangenheit und in derjenigen Situation und Beziehungskonstellation, wie es die ursprüngliche, defizitäre Erfahrung verlangt hätte: „Wenn ich damals deine Ideale Mutter gewesen wäre, als du ins Krankenhaus musstest, hätte ich dich begleitet“.


Wenn die „Gestalt“ von Aktion und Interaktion sich nicht schließt, wenn es zu keiner befriedigenden Passung kommt, dann löst sich jedoch der ursprüngliche Spannungszustand nicht auf. Das ist durchaus körperlich gemeint: der emotionale Zustand oder das Bedürfnis sind korreliert mit einem körperlichen Zustand, der die Motorik auf deren Ausdruck vorbereitet. Die klinische Erfahrung zeigt, dass diese Spannung bei misslungener Interaktion erhalten bleibt: Verhaltensnah als ein Gefühl der Hitze, des Kribbelns, des Zitterns derjenigen Muskeln, die sich auf den Ausdruck vorbereitet hatten, oder als Unterdrückung dieser Aktion in Form von Kälte, Taubheit, Lähmung. Beides kann bis hin zu psychosomatischen Symptomen gehen. Die körpertherapeutischen Elemente der Pesso-Therapie sind geeignet, diese körperlichen Anzeichen von Energie wieder zurückzuverfolgen zu der in ihnen ursprünglich antizipierten Aktion. Sobald diese wieder zugänglich wird, tauchen nicht nur häufig die Assoziationen zu denjenigen erinnerten Interaktionen auf, wo diese Aktion erfolglos blieb oder unterdrückt werden musste; von ihrer wiederentdeckten Form kann man auch die passende Interaktion ablesen und im therapeutischen Kontext gezielt herstellen.


2.1.2. Auswirkungen auf gegenwärtige interpersonale Systeme


Nicht alle Regulation ist aber innerpsychisch möglich. Ebenso wie die nicht zum Ausdruck gekommene Energie sich nicht vollständig auflöst, so verschwinden auch die unerfüllten Bedürfnisse nicht einfach. Daher besteht ein Ersatz-Mechanismus darin, die Interaktion auf alternative Objekte zu verschieben – dies sichert das Überleben des Individuums; um den Preis, dass diese alternativen Interaktionen nicht die volle Befriedigung bieten:




Im Verständnis der Pesso-Therapie ist „Übertragung“ daher ein allgegenwärtiges Phänomen. Sicherlich tritt es in der Intensität einer klassischen Analyse besonders scharf hervor; in gewissem Maße spielt es aber in allen Interaktionen mit der äußeren zwischenmenschlichen und sogar, wie sich in einigen der therapeutischen Übungen der Pesso-Therapie zeigt, der materiellen Außenwelt eine Rolle. Im Extremfall kann diese Verlagerung auf Ersatzobjekte so weit gehen, dass die Erfüllung der Grundbedürfnisse nicht mehr bei menschlichen Bezugspersonen gesucht wird, sondern bei Tieren, bei der Natur, bei Gott. Auch die splendid isolation einer Scheinautonomie, die gar kein äußeres Objekt mehr sucht und sich nur auf sich selbst verlässt, kann man als Verschiebung der Interaktion von der zwischen Selbst und Anderen zu der zwischen Selbst und Selbst auffassen. In diesem Fall trifft die Person die Entscheidung, sich selbst zu bemuttern oder bevatern und gar keiner äußeren Instanz mehr zu vertrauen.

Insgesamt ist historisches Material also im Prinzip in jeder gegenwärtigen Interaktion enthalten – und mit den Techniken der Pesso-Therapie bewusst zu machen: Die Erinnerung an vergangene Interaktionen prägt in umfassender Weise alle gegenwärtigen Interaktionen.


Dieser Einfluss geschieht wie gesagt erstens dadurch, dass die Befriedigung unerfüllt gebliebener Bedürfnisse unbewusst fortlaufend in gegenwärtigen Beziehungen gesucht wird. In diesem Kontext des inzwischen Erwachsenen kann sie aber niemals vollständig geschehen: Zum einen ist in der Regel dessen Gegenüber mit der Erfüllung verkleideter kindlicher Bedürfnisse überfordert und wird die enthaltene Regression nur begrenzt erlauben, zumal er oder sie häufig seinerseits die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse sucht. Die entstehende Dynamik beispielsweise in Paarbeziehungen ist von psychoanalytischen Autoren (Willi, Hendrix) detailliert beschrieben worden. Zum anderen kann es sich in einer erwachsenen Beziehung, und sei sie noch so intim, doch niemals um die vollständig passende Befriedigung handeln: Teil der charakteristischen Form von Grund-Entwicklungsbedürfnissen ist ja auch die Altersstufe, in denen sie befriedigt werden sollten, und die Verwandtschaftsbeziehung, in der dies zu geschehen hat. Selbst in Therapieansätzen, wo der Therapeut eine intensive Regression zulässt und selbst eine korrigierende emotionale Erfahrung anzubieten versucht, kommt es daher (wie bei frühen Analytikern, die damit experimentierten) zu einer intensiven Abhängigkeit des Klienten, statt wie erhofft zu einer nachträglichen Befriedigung und deren Integration in eine reif autonome Persönlichkeit. Die Pesso-Therapie bietet hingegen einen einzigartigen Ausweg aus diesem Dilemma, indem sie über Techniken verfügt, auf der symbolischen Ebene (und nur hier ist dies möglich) die vermisste Interaktionserfahrung in eben derjenigen Beziehung und Altersstufe zu konstruieren, wo das ursprüngliche Defizit lag. Nur so kann eine wirklich vollständige Passung und damit nachhaltige Befriedigung erreicht werden.


Der zweite Einfluss der vergangenen Interaktionen auf die gegenwärtigen liegt darin, dass es zur Orientierung in der Komplexität sozialer Interaktionen unerlässlich ist, auf Wahrnehmungs- und Bewältigungsmuster zurückzugreifen, die auf der Basis vorangegangener Interaktionserfahrungen gebildet worden sind. Um uns in der „Landschaft“ zurechtzufinden, ziehen wir die existierende „Landkarte“ zu Hilfe; wir können gar nicht anders, als die in ihr enthaltenen Kategorien und Strategien zu nutzen. Das heißt aber auch, dass das Individuum der Welt mit dem Ich entgegentritt, das es ursprünglich in Anpassung an die Gegenform gebildet hatte. Folglich werden die frustrierten Bedürfnisse, soweit es die Kontrollmechanismen zulassen, nicht mehr offen gezeigt, ja oft nicht einmal mehr bewusst empfunden. Die „Fassade“, mit der die Person der Welt entgegentritt, ähnelt mehr der Gegenform als der Seele. Und hierin liegt ein fataler selbstverstärkender Mechanismus, denn die Antwort, zu der diese verfälschte Form in der Außenwelt einlädt, ist wiederum die Gegenform. Jemand, der sich stark zeigt, zieht Partner an, die sich anlehnen wollen, und die ihn im Konfliktfall massiv konfrontieren in der Meinung, ihn sonst nicht erreichen zu können. Die hinter der Stärke verborgene Bedürftigkeit oder Verletzlichkeit haben also verschwindende Chancen, im realen Leben zu ihrem Recht zu kommen, da niemand sie im Normalfall je unverstellt zu Gesicht bekommt. Bekannt ist dieses Phänomen auch bei Missbrauchsopfern, die aufgrund dieses Mechanismus leicht erneut zu Opfern von Missbrauch und erneuter Traumatisierung werden.


So widersprüchlich diese beiden Mechanismen erscheinen – der Versuch der ersatzweisen Befriedigung der in der Ursprungsfamilie frustrierten Bedürfnisse im gegenwärtigen System und die Reaktivierung der alten Anpassungsmechanismen und damit der Wiederherstellung derselben Frustration – so häufig sehen wir sie in der Therapie, besonders in Paarsystemen, wo häufig außerdem durch ähnliche (oder komplementäre) Verletzungen in der Lebensgeschichte eine zusätzliche Verstrickung entsteht (Hendrix). Andererseits bedeutet dies aber auch, dass wir im therapeutischen Kontext – der ja ebenfalls ein interaktionelles System darstellt, oder in dem Interaktionen aus dem realen Leben zum Thema gemacht werden können – einen ausgezeichneten Zugang zum ursprünglichen Interaktionsgeschehen herstellen können: Indem wir herausdestillieren, welche Stimmen in gegenwärtigen Beziehungskontexten aktiviert werden, und welche Emotionen und Bedürfnisse – häufig nur noch in Form der Körperenergien zugänglich – wiedererweckt werden, haben wir eine ausgezeichnete Methode, die prägenden ursprünglichen Interaktionen zu identifizieren, und daraufhin gezielt solche Interaktionen zu entwerfen, wie sie damals zwischen dem Klienten und seinen „Idealen“ Bezugspersonen hätten geschehen sollen, um das Wahre Selbst zu bestätigen, das Ego in einer Art und Weise aufzubauen, die diesem entspricht, und damit die Basis dafür zu schaffen, in der gegenwärtigen Außenwelt solche Interaktionen zu antizipieren, zu suchen oder herzustellen, die diesem Selbst entsprechen.


    1. Beobachtete Interaktionen in der Ursprungsfamilie


2.2.1. Stellvertretendes Lernen


Nicht nur die vom Kind selbst gemachten Interaktionserfahrungen prägen jedoch die Organisation seines innerpsychischen Systems. Es beobachtet auch die Interaktionen der anderen Familienmitglieder untereinander und zieht daraus seine Schlussfolgerungen.


Eine direkte Gelegenheit zum Modell-Lernen bietet die Beobachtung der Interaktion zwischen Eltern und Geschwistern. Sehr häufig gibt es zwischen den Eltern und dem ältesten Kind sehr viel mehr Auseinandersetzungen als mit den jüngeren, einfach weil die letzteren aus den beobachteten Interaktionen für sich die geeigneten Schlussfolgerungen ziehen und die entsprechenden Verhaltensregeln oder Stimmen für sich selbst aufbauen. Selbstverständlich ist hierfür aber wieder der Prüfstein die direkte Interaktion, und während manche Regeln für alle Kinder gelten („Wenn du widersprichst, bekommst du Prügel!“), auch wenn einige die entsprechende Interaktion „nur“ beobachtet und nie selbst erfahren haben, so kann es vorkommen, dass andere durch die tatsächliche Reaktion der Eltern falsifiziert und zu eher komplementären Mustern unter den Geschwistern korrigiert werden: „Sei hilflos und unselbständig wie ein Baby, dann bekommst du Zuwendung“ gilt nur für das jüngste; der Versuch der Nachahmung durch das ältere Geschwisterkind wird schnell enttäuscht und modifiziert zu „Du wirst nur geliebt, wenn du unabhängig und kompetent bist“.


Während sich in den genannten Beispielen das Kind mit Geschwisterkindern identifiziert und die Belohnung oder Bestrafung deren Verhaltens auf sich selbst überträgt, gilt Analoges für die Beobachtung der Interaktion der Eltern miteinander, meistens in Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil oder mit demjenigen, dem sich das Kind am ähnlichsten fühlt oder dem es emotional näher steht. Beobachten Mädchen beispielsweise, dass die Mutter vom Vater nicht gleichberechtigt behandelt oder ausgenutzt wird, können sie aus der Stimme „Frauen haben nichts zu sagen“ für sich entweder den Schluss ziehen, dass dies auch für sie als Frau gelte, oder aber dass sie aus diesem Grund die weibliche Geschlechtsidentität für sich ablehnen.


Auch diese Stimmen können im erwachsenen Leben weiter prägenden Einfluss behalten. In allen genannten Fällen kann es sein, dass ihr Ursprung auf die Beobachtung entsprechender Interaktionen zwischen anderen Mitgliedern der Herkunftsfamilie zurückzuverfolgen ist, und dass dementsprechend im heilenden Bild nicht nur die Interaktion der Eltern mit dem Klienten selbst, sondern auch mit dessen Geschwistern anders gestaltet werden muss (Ideale Eltern, die keines ihrer Kinder geprügelt hätten), dass die Geschwisterkonstellation in der symbolisch konstruierten Familie anders organisiert wird (weniger Kinder, in größeren Abständen, oder eine Umkehrung der Geschwisterreihenfolge, so dass der Klient, der als Ältester ewig den Vorkämpfer spielen musste, sich in der symbolisch konstruierten Familie an einen Idealen älteren Bruder anlehnen und an dessen Hand in die Welt gehen kann), oder dass die Interaktion der Idealen Eltern so gestaltet wird, dass der relevante Elternteil für das Kind eine positive Identifikationsfigur bietet, indem er auch von seinem Ehepartner respektvoll behandelt wird.


2.2.2. Die Paarbeziehung der Eltern als Modell für die Integration der eigenen Polaritäten


Gerade beim Verhältnis der Eltern zueinander gibt es allerdings noch einen weiteren Weg, wie Interaktionen in der Außenwelt zum Modell für die innere psychische Organisation des Kindes werden. Die Beobachtung der Interaktion zwischen den Eltern wirkt nämlich nicht nur durch die Identifikation mit einer der beiden Personen, sondern gleichzeitig wird die Dyade als Ganze, das Verhältnis der beiden Pole (Mann und Frau) zum Vorbild des innerpsychischen Verhältnisses der entsprechenden inneren Polaritäten.


Ganz unmittelbar plausibel wird dies, wenn man sich bewusst macht, dass das Kind ja biologisch in sich, in jeder Zelle des eigenen Körpers, genetisches Material sowohl der väterlichen als auch der mütterlichen Seite trägt. Auch in seiner körperlichen Konstitution, in seinem Aussehen, in seinen Charaktereigenschaften, Begabungen etc. trägt es in sich Teile der Mutter und Teile des Vaters. Wenn es (in der Realität oder in der Konstruktion der heilenden Szene einer Struktur) bei den Eltern erlebt, dass diese mit den Eigenarten des jeweils anderen in konfliktfreier Weise umgehen können, dass sie sich auch in ihren Unterschieden respektvoll begegnen und diese als befruchtend und ergänzend auffassen können, so hat es damit auch ein Modell dafür, sich die verschiedenen eigenen Anteile umfassend anzueignen. Sieht es dagegen Mutter und Vater im Konflikt miteinander, so wird es für das Kind schwer, die Mischung väterlicher und mütterlicher Eigenschaften in sich selbst als Harmonie zu empfinden. Gleiches gilt für die eigenen männlichen und weiblichen Seiten, die Fähigkeit, sich durchzusetzen und aufnehmend zu folgen, kraftvoll und weich zu sein etc.: Wenn es in der beobachteten Interaktion einen Gewinner und einen Verlierer gibt, dann können auch die inneren Polaritäten nicht gleichwertig nebeneinander bestehen; die eine oder andere wird nicht integriert. Genauso schwer ist es aufgrund eines nicht-integrierten Vorbilds der Eltern, beide Polaritäten in einer späteren eigenen Paar-Beziehung zu leben und nicht eine davon auszublenden bzw. systemisch gesehen erneut an den Partner oder die Partnerin zu delegieren.


    1. Traumatische Interaktionserfahrungen und Missbrauch


In allen bisher genannten Beispielen geht es um die Frage, wie das Kind mit den Defiziten im Umgang mit seinen Emotionen, Bedürfnissen und Polaritäten zurechtkommt und sein inneres psychisches System entsprechend organisiert. In der Pesso-Therapie wird dies als „Schicht 1“ der therapeutischen Arbeit bezeichnet: Zu wenig der erwünschten positive Interaktion konnte aufgenommen werden.


Als „Schicht 2“ wird die Bearbeitung von Trauma benannt: Zu viele unerwünschte negative Reize mussten aufgenommen werden. Die spezifischen Effekte grenzüberschreitender Interaktionen, also die Folgen von Missbrauch und Traumatisierung, können hier nur gestreift werden; der Leser sei hierfür auf den Artikel von Lowijs Perquin und Albert Pesso (2004) verwiesen. Solche Erlebnisse haben die Schwächung der selbststeuernden Funktionen, die Verletzung der Integrität der Ich-Umhüllung und eine Überflutung sowohl mit äußeren Reizen als auch mit den durch das Trauma erzeugten übermächtigen inneren Emotionen und Energien von grenzenloser Angst, Wut und (auch sexueller) Erregung zur Folge. Häufig beeinträchtigt das Trauma zudem die sprachlichen Kapazitäten, die das Erfahrene in Worte und Gedanken fassen und damit bewusstseinsfähig und verarbeitbar machen könnten.


Kompliziert wird die Bearbeitung dieser Auswirkungen von Trauma durch die meist ebenfalls vorhandenen Defizite. Nicht nur bedeutet Missbrauch immer auch einen Mangel der Befriedigung der Grundbedürfnisse von Schutz und Platz, er kann zugleich per Verschiebung auch als alternative Weise der Nahrung oder der Bestätigung der Besonderheit der eigenen Person verarbeitet werden, so dass in der Therapie die Befriedigung dieser Bedürfnisse zusätzlich auf gesunde Weise sichergestellt werden muss, damit die Opferposition verlassen werden kann.


Eine weitere zusätzliche Komplikation besteht in vielen Fällen speziell von Inzest darin, dass das Opfer gleichzeitig (tatsächlich oder in der Phantasie) eine bedürfnisregulierende Funktion für andere Familienmitglieder erfüllt. Bei Vater-Tochter Inzest kommt das Mädchen in die Rolle der „besseren Partnerin“ für den Vater und sieht sich vielleicht zugleich als Beschützerin der Mutter oder der jüngeren Schwester, bei Bruder-Schwester-Inzest fühlt sie sich vielleicht sogar dafür verantwortlich, den Täter vor Gewalt der Eltern und vor deren Strafe im Fall der Endeckung der Tat zu schützen. Dies ordnet die Pesso-Therapie der „Schicht 3“ zu, auf die ich im folgenden wieder detaillierter eingehen werde.


    1. Löcher in den Rollen des Familiensystems


In den letzten Jahren hat Albert Pesso eine entscheidende Erweiterung der Pesso-Therapie entwickelt, die eine weitere, deutlich von allem zuvor Dargestellten unabhängige Art und Weise beschreibt, wie sich das Familiensystem der Ursprungsfamilie auf die individuelle psychische Struktur auswirkt (siehe Fischer-Bartelmann und Roth-Bilz 2004). Selbstverständlich handelt es sich auch hier um Rückschlüsse aus Beobachtungen wiederkehrender Muster bei der Behandlung erwachsener Patienten.


Bei allen bisher beschriebenen Phänomenen ging es um die Auswirkung von Diskrepanzen zwischen der Form des wahren Selbst und der Form des Gegenübers, zwischen den genetisch festgelegten Grundbedürfnissen und Polaritäten des Individuums einerseits und andererseits dem Ausmaß an Entsprechung, das sie in der Interaktion mit der Außenwelt finden.

Bei diesem neuen Ansatz der „Löcher in den Rollen“ geht es analog um die Auswirkungen von Diskrepanzen zwischen dem ebenfalls als genetisch angelegt postulierten Wissen, welche Rollen in einem vollständigen Familiensystem erfüllt sein müssen auf der einen und Lücken in diesem Rollengefüge (also fehlende Personen oder solche, die die Funktion ihrer Rolle nicht oder mangelhaft ausüben) auf der anderen Seite.




Wie auch die Differenz zwischen Form und Gegenform kann man dieses Phänomen kybernetisch auffassen: Ein innerer Sollwert des bestmöglichen Falles wird mit dem Istwert der tatsächlichen Interaktionen verglichen; je größer die Übereinstimmung, desto größer die Zufriedenheit; je größer allerdings die Abweichung, umso größer das Bemühen um Regulation, das sich meist in Symptomen zeigt. Aber während es im unter 2.1. und 2.2. beschriebenen Fall um die Bedürfnisse des Individuums selbst handelt, deren Erfüllung es durch Anpassung des Ich an die Außenwelt einerseits, durch Verschiebung auf andere Objekte andererseits bestmöglich zu erreichen sucht, handelt es sich hier in 2.4. um die Bedürfnisse anderer Familienmitglieder. Anders gesagt, hat das Kind in sich nicht nur ein Wissen um die eigene Form und die erhoffte Passform hierzu; es ist auch in der Lage, die Position andere Familienmitglieder und die Form ihrer Bedürfnisse zu verstehen und weiß um die notwendige Passform hierzu. Es „weiß“, dass Kinder Eltern brauchen und Eltern Kinder, dass Ehefrauen Ehemänner brauchen und Ehemänner Ehefrauen, es versteht die „Grammatik“ aller in Familiensystemen vorkommender Rollen, auch von Bruder und Schwester, Onkel und Tante, Neffe und Nichte, Großmutter und Großvater, Enkel und Enkelin. Fehlt die jeweilige Passform, so erzeugt dies einen analogen Spannungszustand zu dem, wenn es selbst nicht die Passform zu den eigenen Bedüfnissen erfährt: Die Gestalt ist nicht geschlossen, es entsteht kein Gefühl von Befriedigung „So soll es sein, so ist es gerecht!“, es bleibt ein innerer Antrieb: Hier muss etwas geschehen!


Frappierend ist die klinische Beobachtung, dass dies nicht nur bei der unmittelbaren Wahrnehmung dieser Lücke der Fall ist, derselbe Effekt tritt auch bei nur verbal weitergegebenen Berichten über Löcher im Familiensystem ein, die bis zu mehrere Generationen zurückreichen: der gefallene Großvater, die von ihren Eltern weggegebene Tante, die von Vorfahren erlittene ethnische oder religiöse Verfolgung. Das heißt, dass sich das Mehrgenerationensystem nicht nur mittelbar auswirkt: Der frühe Tod des Großvaters wird sich auf die psychische Konstitution der Mutter auswirken und hierdurch vermittelt einerseits auf ihre Fähigkeit, ihrer Tochter eine Passform zu bieten, andererseits auf ihre Partnerwahl und Paardynamik, die ein entscheidendes Lebensumfeld der Tochter darstellen. Das Kind, das diese Geschichte hört, erfasst aber über diese Wirkwege hinaus auch unmittelbar die Bedeutung, die dieser Verlust für die Mitglieder des damaligen Familiensystems bedeutete: Dass ihre Mutter und deren Geschwister als kleines Kind den Vater verloren, dass ihre Großmutter den Ehemann verlor, ihre Urgroßeltern den Sohn, ihr Onkel den Bruder – all dies Jahrzehnte, bevor es selbst auf die Welt kam.


      1. Auswirkungen auf das individuelle System


Was kann nun die Person ausrichten, die diese Geschichten erfährt, dieses Loch im Familiensystem wahrnimmt, die Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der anderen Familienmitglieder und der fehlenden Passform dazu schmerzhaft als Abweichung vom Soll empfindet? Ihr Mitgefühl erzeugt in ihr den Impuls, diese Lücke mit einem Teil ihrer Selbst auszufüllen.





Ebenso wie das Wissen um ein vollständiges Familiensystem genetisch angelegt ist, so ist es nämlich auch die Fähigkeit, die verschiedenen Rollen in einem Familiensystem einzunehmen. Im Idealfall reift diese Fähigkeit im Laufe der Entwicklung heran, so dass „erwachsene“ Funktionen erst im erwachsenen Alter ausgefüllt werden müssen, nachdem sie in der „empfangenden“ Position erfahren und verinnerlicht werden konnten. In der gesunden Entwicklung kann das Kind erst die Liebe eines Vaters und einer Mutter in sich aufnehmen, bevor es selbst Vater oder Mutter wird; es kann die Paarbeziehung der Eltern internalisieren, bevor es selbst zu einer eigenen Partnerschaft heranreift. Auch hier gibt es aber einen Ersatz-Mechanismus, der das Überleben der Spezies sicherstellt auch für den Fall, dass die Interaktionen nicht von außen integriert werden können: Das Kind mobilisiert – völlig unbewusst – die gebenden Anlagen aus seinem eigenen Selbst, ohne zuvor in der empfangenden Position gewesen zu sein.


In der Familientherapie sind zwei spezifische Spielarten dieses Mechanismus bekannt: erstens die Triangulation, also die Einnahme einer Rolle, die zwischen konfliktverstrickten Eltern eine moderierende Funktion durch Vermittlung oder Ablenkung erfüllt, und zweitens die Parentifizierung. Im Lichte der Pesso-Therapie würde man letztere allerdings weiter differenzieren in a) die Übernahme einer Elternfunktion für Geschwister, b) die Übernahme einer Partnerfunktion für einen oder beide Elternteile, und / oder c) die Übernahme einer Elternfunktion für die Eltern. Zusätzlich lässt aber dieses Modell der „Löcher in den Rollen“ die Einnahme wirklich aller möglichen familiären Positionen zu, übrigens weitgehend unabhängig von der Übereinstimmung des eigenen Geschlechts mit dem der eingenommenen Funktion. Und je nach dem, wo das „Versagen“ in der Familiengeschichte wahrgenommen wird, geht dieser unbewusste Mechanismus bis hin zu Größenphantasien, zu dem Wunsch, in messianischer Weise eine bessere und gerechtere Gesellschaft herzustellen, die Welt zu retten, ja der „bessere Gott“ zu sein.


Auch dieser Ersatz-Mechanismus hat seinen Preis. Hier besteht er erstens darin, dass durch die vorzeitige Einnahme der gebenden Position die Fähigkeit eingeschränkt wird oder häufig sogar ganz verloren geht, aufzunehmen, also Befriedigung von außen anzunehmen. Dies zeigt sich in einer spezifischen Form des Widerstandes gegen die doch eigentlich ersehnte Erfüllung eigener Bedürfnisse. In einer Struktur beobachtet man an dieser Stelle, dass zwar in der wahren und verstärkt in der historischen Szene durchaus eine deutliches Verlangen nach positiven Partialfiguren oder Idealen Eltern zu sehen ist, diese aber, sobald sie angeboten werden, abgewertet oder als nicht glaubhaft abgelehnt werden – nicht selten mit einem spezifischen Ausdruck von Zynismus und bitterem Triumph: „So ein Quatsch, das kann kein Mensch für mich tun!“ Das Einspringen in die offenen Funktionen im Familiensystem erzeugt nämlich eine Form von Omnipotenz: „Ich bin der einzig Gebende, niemand außer mir ist dazu in der Lage!“, die ebenso wie andere Formen der Omnipotenz (siehe Perquin 2005) keinen anderen neben sich duldet und mögliche äußere Autoritäten eifersüchtig bekämpft. Dies steht aber selbstverständlich im diametralen Gegensatz zu den Sehnsüchten und Bedürfnissen des (in der Kindheit unbefriedigt gebliebenen) wahren Selbst; und dieser innere Widerspruch ist unweigerlich der betroffenen Person völlig unverständlich und wird von ihr selbst mit Befremdung, wie ein innerer Dämon oder eine „Entität“ (diese Metapher stammt aus dem Film „Alien“), wahrgenommen.


Zweitens verschiebt sich durch das Einspringen in bestimmte Rollen die innere Balance zwischen den männlichen und weiblichen Polaritäten. Die Einnahme männlicher Rollen (z.B. Ersatz-Ehemann für die Mutter) führt zu einer Inflation der eigenen männlichen Seite, ebenso wie die Übernahme weiblicher Funktionen (z.B. Ersatz-Mutter für die Mutter) zu einer Überbetonung der eigenen weiblichen Seite führt. Es scheint aber andererseits hiergegen auch einen Abwehr-Mechanismus zu geben: Um dem Sog zu widerstehen, in die Rolle einer Ersatz-Ehefrau für den Vater zu geraten, wird – hier sekundär – die eigene weibliche Seite ausgeblendet und umgekehrt die männliche Seite überausgeprägt.


Zum Dritten bedeutet das Einspringen in die Rollen auch eine Grenzüberschreitung. Gleichzeitig verlässt die Person damit ja die Ebene des Kindes (was in der Familientherapie grundsätzlich als symptomerzeugend betrachtet wird). Die messianische Grandiosität „Ich rette die Welt...“ zusammen mit deren Ausschließlichkeit „... und niemand sonst“ lässt den ursprünglich aus Mitgefühl entstandenen Impuls leicht umschlagen ins Dämonische, Zynische; aus der Eifersucht der Entität heraus werden andere (durchaus auch positive) Autoritäten bekämpft. Ähnlich wie bei der Omnipotenz, die aus einem Mangel an Grenzen entsteht, oder der Überflutung mit inneren Energien, die bei Traumatisierung durch die Verletzung der Ich-Grenzen entsteht, bringt die Mobilisierung einer Entität eine Stimulation von primitiven aggressiven und sexuellen Energien hervor. Viele historische Personen, die Tyrannei, Krieg und Grausamkeit in der Geschichte hervorbrachten, hatten ausgesprochene männliche Entitäten (fehlender Vater etc.). Als Abwehr dieser Energien treten allerdings auch Symptome auf, deren Funktion darin besteht, diese möglicherweise destruktiven Energien in Schach halten: Angst- und Zwangsstörungen, Depression und die Unfähigkeit, Dinge zu einem Abschluss zu bringen, oder per Retroflexion Gefühle von Bedrohung (z.B. durch satanische Kulte u.ä.) oder Impulse der Selbstschädigung.


2.4.2. Auswirkungen auf gegenwärtige interpersonale Systeme


In der Regel sind diese „dämonischen“ Seiten aber sorgfältig kontrolliert und treten nur selten unverstellt in Erscheinung, sind dann aber durchaus im nonverbalen Ausdruck zu erkennen. Was jedoch allenfalls zu Bewusstsein kommt, ist neben den genannten Abwehr-Symptomen nur die Haltung „Geben ist seliger denn Nehmen“, die ja durchaus gesellschaftlich akzeptiert und anerkannt ist, also beträchtlichen sekundären Gewinn bringt und gerade in helfenden Berufen sogar einen Teil der beruflichen Identität ausmacht – allerdings um den Preis der Gefahr des Burn-outs.


Im Bereich privater Beziehungen führt diese Haltung zu einer Störung der Reziprozität. Verhaltenstherapeutisch orientierte Paartherapeuten betonen bei der Gegenseitigkeit in Paarbeziehungen in der Regel die gebende Seite: dass es zur Stabilität der Paarbeziehung notwendig sei, dass beide Partner in ähnlichem Maße in die Beziehung investieren. Ebenso notwendig ist es aber, dass beide die Investitionen des anderen auch „gutbuchen“, dass sie seine Zuneigung und Fürsorge annehmen.


Ist dies einem Partner wegen der Dyamik der Entität nicht möglich, so fühlt er sich wegen des entstehenden Ungleichgewichts auf längere Sicht in der Beziehung ausgenützt, ohne dass er dem anderen tatsächlich die Chance gibt, das „Konto auszugleichen“; er wird dies unbewusst sabotieren und immer Gründe finden, warum er seine Bedürfnisse nicht äußern kann oder warum die Fürsorge des anderen zum falschen Zeitpunkt, in der falschen Art geschieht, oder auf sonst irgend eine Weise für ihn nicht wirklich annehmbar und wertvoll ist. Für das Gegenüber fühlt sich dies einerseits wie eine andauernde Unverbindlichkeit an: Er fühlt sich nicht wirklich gebraucht und insofern in gewisser Weise austauschbar, als ob sich der andere nie wirklich auf die Beziehung einlasse. Andererseits fühlt er sich ständig in der Schuld des anderen, minderwertig, als ob er selbst nicht in der Lage oder nicht wirklich willens sei, dessen Wohltaten zu erwidern. Manchmal gibt es aus dieser unerträglichen Position für den „Schuldner“ nur noch den Ausweg, dass er entweder genauso die Annahme von Fürsorge verweigert und damit ebenfalls die Bindung schwächt, die Beiträge des Partners seinerseits abwertet bzw. so umdefiniert, dass ihr Wert vermindert wird, oder dass er die Beziehung ganz verlässt – meist unter kompletter Verständnislosigkeit der Umgebung, die diese „Undankbarkeit“ nicht nachvollziehen kann.


  1. Behandlungstechnik der Pesso-Therapie


Wie bereits angedeutet, ist es der Grundgedanke der Pesso-Therapie, den symptomerzeugenden Erinnerungen an die prägenden nicht-passenden Interaktionen solche zur Seite zu stellen, die stattdessen dem Wahren Selbst entsprochen hätten. Das neue bewusstseinsfähige Ich entsteht aus neuen Interaktionserfahrungen mit anderen; Interaktionen, in denen die Grund-Entwicklungsbedürfnisse befriedigt worden wären, die Polaritäten hätten integriert werden können, und Mitgefühl und die Fähigkeit, andere zu versorgen, nicht vorzeitig aktiviert worden wären, weil die Funktionen im Familiensystem von den dafür notwendigen Personen erfüllt worden wären.


Interessant ist, dass auch an dieser Stelle die konstruktivistische Grundannahme der systemischen Therapie zum Tragen kommt. Was das gegenwärtige Erleben und Verhalten beeinflusst, sind nicht unmittelbar die lebensgeschichtlichen Ereignisse, sondern – die Erinnerung daran. Dieses Erinnern ist ein aktiver, kreativer Prozess (vgl. auch das Phänomen der false memories). Erinnerungen werden hirnphysiologisch gesehen niemals nur abgerufen, sondern in diesem Prozess jedesmal auch gestaltet, in Zusammenhänge gestellt, gedeutet. Daher ist es nicht nur wirksam, die symptomerzeugenden Interaktionen durch gesunde zu ersetzen, wie es der Familientherapeut tun kann, der das gesamte System vor sich hat und behandeln kann. Man kann auch stattdessen die Erinnerung an die bereits Jahrzehnte zurückliegenden Interaktionen mit Hilfe alternativer Erinnerungen behandeln.


3.1. Antidot-Szene


3.1.1. Alternative Erinnerungen...


Kann man Erinnerungen einfach so ersetzen? Nein, das kann man nicht, und die Erinnerung an die historischen Ereignisse kann und soll auch nicht „gelöscht“ werden. Schließlich macht die reale Lebensgeschichte einen großen Teil der persönlichen Identität aus. Auch bleibt selbstverständlich die Unterscheidung zwischen real erlebten und synthetisch hergestellten Erinnerungen erhalten. Wir können in der Therapie genausowenig ändern, was geschehen ist, wie wir die realen Personen in der Lebensgeschichte unseres Klienten ändern können. Manche Techniken in systemischen Therapien (Skulpturen, Aufstellungen) könnten durch diese Präzisierung hinzugewinnen: Die Frage, wie das Beziehungsgefüge hätte sein sollen, ist nicht so einfach zu beantworten, solange dies auf dem Hintergrund der realen Persönlichkeiten (beispielsweise der überforderten, unsicheren Mutter) geschieht; denn dann bleibt unklar, was beispielsweise eine größere Nähe bedeuten sollte: Auch dann wäre diese Mutter schließlich noch nicht in der Lage, die eigentlich ersehnte Unterstützung zu geben, und eine Annäherung könnte dann eher eine verstärkte Konfrontation mit ihren Ängsten bedeuten. Zahlreiche ähnliche Dilemmata können in der Pesso-Therapie dadurch umgangen werden, dass die heilende Erfahrung ganz betont mit „Idealen Figuren“ konstruiert wird, also nicht mit der Realen Mutter, wie sie damals war, sondern mit einer Mutter, wie sie der Klient damals gebraucht hätte.


Hierdurch kann übrigens auch offengelassen werden, ob die realen Personen ungeachtet ihrer eigenen Lebensgeschichte und -umstände hätten in der Lage sein müssen, diese Funktionen zu erfüllen oder nicht. Die Idealen Figuren sind dazu per definitionem fähig und willens (und verfügen auch über den nötigen idealen lebensgeschichtlichen Hintergrund dafür). Die symbolische Erfüllung der Bedürfnisse durch die Idealen Figuren führt allerdings sehr häufig auch zu einer Versöhnung mit den realen Personen, da das Verzeihen nun nicht mehr gleichbedeutend mit dem Aufgeben eines unverzichtbaren eigenen Bedürfnisses ist.


Was die Pesso-Therapie allerdings anstrebt ist, der realen Erinnerung die hypothetische an die Seite zu stellen, so dass die neue, in der Therapiesitzung synthetisch hergestellte Erinnerung in zukünftigen Situationen zusammen mit der ursprünglichen aktiviert wird; dass sie also mit denselben assoziativen Verbindungen im Gehirn verknüpft wird. Zu diesem Zweck ist auch das Microtracking (siehe Bachg 2004) unentbehrlich: Nur wenn wir sehr präzise feststellen, welches assoziative Netzwerk und welche lebensgeschichtlichen Erinnerungen durch die momentane, als konflikthaft erlebte Situation aktiviert werden, können wir entsprechend dafür sorgen, dass wir die synthetische Erinnerung an der richtigen Stelle „einpflanzen“. Was zunächst so einfach klingt, die Konstruktion alternativer synthetischer Erinnerungen, ist in der konkreten Interventionstechik durchaus eine Herausforderung und verlangt höchste Präzision.


3.1.2. ... an alternative Interaktionen ...


Aus denselben Gründen ist bei der Konstruktion der heilenden Szene die größtmögliche Exaktheit bis in die Wahl der einzelnen Worte und Gesten unerlässlich. Jede Formulierung, jede Metapher, jede Platzierung und Berührung hat Bedeutung, und auch bei der Definition der Figuren der Idealen oder Antidot-Szene und in deren Sätzen kommt es auf das Detail an:

  1. Wenn ich damals...“ definiert die Lokalisation der heilenden Erinnerung in der hypothetischen Vergangenheit anstelle des Hier und Jetzt des Therapiesettings;

  2. ... deine Ideale Mutter gewesen wäre,...“ definiert den genauen Beziehungskontext der Interaktion und grenzt ihn gleichzeitig von dem mit der realen Person ab, mit der die entsprechende Erfahrung ja eben nicht (oder nicht zuverlässig) gemacht werden konnte;

  3. ... als du ins Krankenhaus musstest,...“ stellt den Zusammenhang mit dem relevanten, oft kritischen Lebensereignis her;

  4. ...hätte ich dich begleitet.“ beschreibt ganz konkret die Interaktion, wie sie damals hätte stattfinden sollen, nicht nur die Fähigkeit („hätte ich gewusst, was du brauchst“) oder Bereitschaft („wäre ich bereit gewesen, mit dir zu gehen“) hierzu.


Interessant ist an dieser Stelle, dass die klinischen Erfahrungen der Pesso-Therapie diejenigen der kognitiven Verhaltenstherapie bestätigen: Es ist nicht viel damit gewonnen, den „negativen“ Stimmen der wahren Szene einfach nur positive Stimmen entgegenzustellen, da diese nicht von Interaktionserfahrungen in ihrer Glaubhaftigkeit untermauert werden, so wie es bei den Stimmen der Wahrheit, der negativen Voraussage etc. der Fall ist. Vielmehr ist es unerlässlich, diese zu den Ereignissen zurückzuverfolgen, in deren Kontext sie entstanden sind. Und nur alternative interaktive Ereignisse können wirksam zur Basis anderer Heuristiken werden. Die Stimmen entstehen als Schlussfolgerungen aus Beziehungserfahrungen im Kontext eines Systems, und nur ein alternativer systemischer Kontext mit anderen Interaktionserfahrungen kann eine belastbare Grundlage anderer Glaubenssysteme werden. Die Schlussfolgerungen aus den Antidot-Erfahrungen müssen dann häufig nicht einmal mehr ausdrücklich formuliert werden. Die Konsequenzen aus der heilenden Interaktion werden vom Klienten nicht selten völlig spontan gezogen: „Dann wäre mein ganzes Leben anders gelaufen!“


3.1.3. ... wie sie damals hätten geschehen sollen


Woher wissen wir, welche alternativen Ereignisse oder Beziehungserfahrungen als Antidot geeignet sind? Nicht von den Rollenspielern, wie bei Hellinger. Denn diese nehmen ja schließlich unweigerlich das System, in dem sie die Rolle übernommen haben, durch ihre jeweils persönliche Brille wahr; sie können also gar nicht anders, als jeweils ihre eigene persönliche Lebensgeschichte in ihre Wahrnehmungen, Bewertungen und Neigungen in der dargestellten Situation einfließen zu lassen. Und wie lange werden selbst Therapeuten geschult, um sich dieser Phänomene zumindest bewusst zu werden? Nein, die Pesso-Therapie geht davon aus, dass das Wissen um das Antidot in der Klientin selbst liegt, in ihrem Wahren Selbst oder in ihrer „genetischen Erinnerung“, wie Albert Pesso die in jeder Person angelegte Antizipation optimaler Entwicklungsbedingungen nennt, in Abgrenzung zu den historisch aufgefundenen, die in der „autobiographischen Erinnerung“ abgespeichert sind.


Die Wege, diese Informationsquelle zu nutzen, sind bereits genannt worden:

  1. der emotionale Gesichtsausdruck, den die Zeugenfigur benennt, also auch die Unzufriedenheit oder der Schmerz in Bezug auf die in der Wahren Szene dargestellte oder in der Historischen Szene erinnerten Situation, die Empörung darüber (die ja impliziert, dass es hätte anders sein sollen), und die Wünsche und Sehnsüchte nach alternativen Interaktionen;

  2. die in den (positiven) Übertragungen in gegenwärtigen Beziehungen oder der therapeutischen Beziehung enthaltenen Sehnsüchte nach interaktiver Befriedigung. Von der Interaktion mit Ersatz-Objekten einschließlich der Selbst-Selbst-Interaktion kann der Prozess der Verschiebung rückgängig gemacht werden zu einer Interaktion mit einer entsprechend definierten positiven Partialfigur.

  3. und die evtl. zunächst nur noch als Spannung oder sogar psychosomatisches Symptom wahrgenommenen psychomotorischen Energien, die nach körperlichem Ausdruck streben, aus dem sich wiederum die passende Interaktion ablesen lässt.


Der Kontext, in dem diese Interaktion hätte stattfinden müssen (Alter, Verwandtschaftsbeziehung), kann auf verschiedene Weise herausgefunden werden. Zum einen verändert sich in dieser Phase der Struktur häufig die gesamte Gestalt des resultierenden Körperzustandes der Klientin: Sie wirkt in ihrem Gesichtsausdruck, ihrer Stimme, ihrer Körperhaltung wie ein Kind in einem bestimmten Alter, und sehr häufig fühlt sie sich auch so und kann die Frage „Wie alt fühlst du dich?“ ohne weiteres beantworten – wenn auch diese Antwort kaum kognitiv begründen. Die Hypothese der Pesso-Therapie ist, dass in dieser Phase der Struktur das erinnerte Körperschema von damals aktiviert wird. Der alternative Weg zum Kontext ist, ihn aus der assoziativ aktivierten und erinnerten Historischen Szene zu übernehmen.


Dann kann mit der Klientin gemeinsam entwickelt werden, wie eine befriedigende Interaktion in diesem Kontext ausgesehen hätte; wie sich die Idealen Figuren anstelle der Historischen Figuren verhalten hätten, um die Klientin als Kind in einer schwierigen Situation bestmöglich zu begleiten, letztendlich aber um diese Situation womöglich gar nicht erst entstehen zu lassen. Manchmal ist ersteres als Zwischenschritt unumgänglich, da das zweite nicht unmittelbar für die Klientin glaubhaft ist. Die Gestaltung der Antidot-Szene richtet sich immer nach der Empfänglichkeit der Klientin und nach der Glaubhaftigkeit für sie. Dennoch wird die Therapeutin sich darum bemühen, dass in dem Antidotbild nicht eine unbewusste negative Rekonstruktion enthalten ist, also eine Wiederholung der ursprünglichen Verletzung. Wenn irgend möglich, wird das endgültige Antidot nicht aus einem Trost angesichts des angerichteten Schadens, sondern in dessen Abwendung bestehen.


Über die Fähigkeit der Therapeutin hinaus, die nonverbalen Signale wahrzunehmen, zu benennen, einzuordnen, und in ihrer Weiterentwicklung zu Aktion und Interaktion zu begleiten, ist hierbei auch das therapeutische Wissen um Entwicklungspsychologie und universelle Entwicklungsbedürfnisse (Pesso und Boyden-Pesso 1994) unverzichtbar.


3.2. Universelle Entwicklungsbedürfnisse


3.2.1. Befriedigung von Grundbedürfnissen


Im Falle von Defiziten geht es bei der Antidotszene um Interaktionen, die der Seele eine Passform geboten hätten. Dies bezieht sich zum einen auf die Erfüllung der (häufig auch an der Körpersprache ablesbaren) Grundbedürfnisse:

  1. Eltern, die dem Kind einen Platz im Leben geben: buchstäblich im Leib der Mutter, in ihrem Zuhause, aber auch symbolisch: in ihrem eigenen Leben, einen Platz in ihrem Herzen, in ihrem Geist, in ihren Augen. Dieser Platz wird auf der körperlichen Ebene als Umhüllung aufgenommen. Er erlaubt dem Kind, sich zu entwickeln und zu entfalten und zehrt nicht umgekehrt von ihm. Als Resultat fühlt sich die Person willkommen im Leben, sie hat Urvertrauen und ein sicheres Gefühl ihrer Daseinsberechtigung, kann sich zu Hause und am richtigen Platz fühlen und diesen ihrerseits ihren Kindern ermöglichen.

  2. Eltern, die das Kind nähren: buchstäblich mit Nahrung, symbolisch mit Zuneigung, Wärme, Wertschätzung. Auf der körperlichen Ebene wird Nahrung als Fülle des Körperinneren wahrgenommen. Die Person fühlt sich nicht hungrig, leer, hohl, sondern wohlig angefüllt und vertraut darauf, entsprechende Erfahrungen auch in ihren heutigen Interaktionen machen zu können. Sie ist auch in der Lage, andere neidlos zu nähren ohne das Gefühl, sich selbst dabei zu verausgaben.

  3. Eltern, die das Kind unterstützen: die im buchstäblichen Sinn den Säugling tragen und halten, so dass er weder fürchtet zu fallen, noch sich selbst angestrengt aufrecht halten muss; die dem Kind im symbolischen Sinne „den Rücken stärken“, wenn es seine eigenen Ziele verfolgt. Auf der Körperebene wird Unterstützung mit der Körperrückseite und mit Gesäß und Beinen wahrgenommen. Die Person fühlt „Rückhalt“, hat eine sichere Ausgangsbasis für ihre Aktionen und kann ihre Konzentration und Kraft für ihre eigenen Zwecke einsetzen.

  4. Eltern, die das Kind schützen: dafür sorgen, dass es weder konkret noch symbolisch überwältigenden Reizen ausgesetzt ist, die es sicher machen, weich, verletzlich und empfänglich zu sein. Schutz definiert die Körpervorderseite und erzeugt das Gefühl der Sicherheit im eigenen Körper.

  5. Eltern, die das Kind begrenzen; die seine Impulse auch aggressiver und sexueller Art liebevoll aufnehmen und in sozial verträgliche Bahnen leiten. Grenzen werden mit allen „prominenten“, nach außen tretenden Körperteilen aufgenommen, aber auch die vor allem nach Traumatisierung unwillkürliche und unerwünschte Öffnung und Verletzlichkeit kann von positiven Figuren begrenzt werden. In Folge kann die Person mit ihrem eigenen Potential gezielt und produktiv umgehen und braucht es nicht ängstlich zu unterdrücken.


3.2.2. Integration von Polaritäten


Zur Integration der jedem Menschen innewohnenden Polaritäten ist zum einen nötig, dass die Idealen Eltern in der Antidotszene mit beiden Seiten (auch mit dem bisher weniger oder nicht gelebten Pol) ihres Kindes „passend“ umgehen, ihm eine Passform bieten für

  1. die vom Vater und die von der Mutter ererbten Eigenschaften,

  2. die Kapazitäten der rechten und der linken Hemisphäre,

  3. die Fähigkeit sich sowohl motorisch aktiv und kraftvoll zu verhalten und auf die Umwelt Einfluss zu nehmen als auch sensorisch passiv, aufnehmend, verletzlich, und sich von der Umwelt beeinflussen zu lassen

  4. die männlichen (Animus, Yin) und weiblichen (Anima, Yang) Seiten.


Über die direkte Interaktion hinaus ist aber bei diesen Entwicklungsaufgaben auch das Vorbild der Eltern von großer Bedeutung, einerseits im dyadischen Umgang miteinander, andererseits im Modell der Integration der eigenen Persönlichkeiten. In der Antidotszene ist daher oft die Beziehung der beiden Eltern zueinander von besonderer Bedeutung.

Hier gibt es große Unterschiede in den Bedürfnissen einzelner Klienten, je nach dem, welche Seiten bei den realen Personen unterrepräsentiert waren. Während es für den einen Klienten besonders wichtig ist, die Eltern in enger und unzertrennlicher Verbundenheit zu sehen, brauchen andere ein Bild von zwei selbständigen aufeinander bezogenen Individuen. Während die eine Klientin eine starke, selbstbewusste, unabhängige und kraftvolle Mutter sehen möchte und einen weichen Vater, wünscht sich eine andere eine weibliche, anschmiegsame Frau, die sich ihres Wertes bewusst ist und ihrerseits die männlichen und potenten Seiten ihres Partners wertschätzen kann.


In beiden Fällen (Grundbedürfnisse und Polaritäten) ist manchmal für die Glaubhaftigkeit der Idealen Eltern die Vorstellung unerlässlich, dass diese zuvor in der empfangenden Position gewesen sind: dass sie ihrerseits die entsprechenden Bedürfnisse von ihren eigenen Eltern erfüllt bekommen haben, um ohne Anstrengung die des Kindes erfüllen zu können; dass sie mit Unterstützung ihrer Eltern ihre eigenen Polaritäten integriert haben, um die des Kindes umfassend annehmen zu können. Schon in diesen Antidotszenen auf Ebene 1 weitet sich daher gelegentlich der Blickwinkel auf die Mehrgenerationenperspektive bis dahin, dass die Klientin sich als Teil eines generationenübergreifenden Stroms fühlen möchte, in dem Zuneigung, Liebe, Fürsorge, Wertschätzung etc. von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dieses Bedürfnis ist wiederum universell und beinahe archetypisch.


3.2.3. Vervollständigung des Familiensystems


Auf der Ebene 3 (Löcher in den Rollen des Familiensystems) wird dann der Fokus vollständig auf die Mehrgenerationenperspektive gelegt. In analoger Weise zu den bisher beschriebenen Antidotelementen werden hier Ideale Figuren eingeführt, diesmal jedoch nicht als Passform zu den Bedürfnissen der Klientin selbst, sondern als Passform zu den Bedürfnissen der anderen Familienmitglieder, in deren Dienst die Entität ursprünglich mobilisiert wurde. Die Klientin ist in diesen Antidot-Szenen der Ebene 3 nicht selbst Empfängerin der Fürsorge dieser Idealen Figuren, sondern ist Betrachterin, wie die Idealen Figuren die zuvor vakante Position ausfüllen und die damit verbundenen Funktionen ausüben.


Die Sätze der Idealen Figuren (z.B. Idealer Ehemann für die Reale Großmutter, Idealer Vater für die Reale Mutter) richten sich daher in diesem Fall in aller Regel an die von ihnen versorgten Familienmitglieder. Der Effekt hiervon ist allerdings ein intensives Gefühl der Erleichterung und Entlastung auf seiten der Klientin, es ist, als ob zentnerschwere Lasten von ihr abfielen – Lasten, von denen ihr zuvor nicht einmal bewusst war, dass sie sie trug. Obwohl also in dieser Phase der Struktur keinerlei körperliche Interaktion mit der Klientin geschieht, haben die entworfenen alternativen Erinnerungsszenen oft intensive körperliche Effekte, bis hin zur Verschiebung der Wahrnehmung des eigenen Körpers oder der Veränderung und Schärfung von Sinneseindrücken, was belegt, in welchem Umfang das ursprünglichen Einspringen in diese Rollen die Organisation der psychischen und körperlichen Energien geprägt hatten.


Häufig fällt auch hier spontan der Satz: „Dann hätte ich mir darum keine Sorgen machen müssen, und mein ganzes Leben wäre anders gelaufen!“ In diesem Fall könnte sich z.B. der Ideale Vater der Realen Mutter auch an die Klientin selbst wenden. „Wenn ich damals der Ideale Vater deiner Realen Mutter gewesen wäre, dann hätte ich für sie gesorgt, und du hättest dir keine Sorgen machen müssen.“ Dann wird die Struktur allerdings auf Ebene 1 mit Idealen Figuren für die Klientin selbst zum Abschluss gebracht, denn dieser Satz von ihr signalisiert auch, dass sie nun in die Lage versetzt ist, sich ihren eigenen Bedürfnissen zuzuwenden; dass die Entität nicht mehr notwendig ist, von selbst förmlich in sich zusammenfällt und den Weg freigibt für das Empfangen von Fürsorge auf der Ebene 1.


    1. Integration der Antidot-Erfahrung


3.3.1. Nachwirkungen einer Struktur – individuelle Veränderungen


Was sind nun die Auswirkungen von solchen Antidot-Erfahrungen in einer gelungenen Struktur? Dass die Klienten im Verlauf der Struktur mit einem entwicklungsgeschichlich früheren Körperschema in Kontakt kommen, ist für Therapeut und andere Gruppenmitglieder oft eindrücklich sichtbar. Deutlich wahnehmbar ist auch die Tatsache, dass sie von den Szenen in Wahrer und Historischer Szene ebenso wie von den Antidot-Bildern auf Ebene 3 wie auf Ebene 1 tief berührt sind, und dass die Antidot-Erfahrung sowohl zu intensiver Entspannung als auch zu einer Vitalisierung des Körpers führen kann. Besonders eindrücklich ist diese Veränderung oft für diejenigen Rollenspieler, die als Ideale Figuren mit der Klientin in Berührung sind und die Veränderungen im Spannungszustand von deren Körper deutlich wahrnehmen. Viele Klienten fühlen sich gegen Ende der Struktur körperlich ganzheitlicher, symmetrischer, offener oder geschlossener oder beides zugleich. Nicht wenige wirken nach einer Struktur einfach schöner.


Meist schwingt die Struktur in der unmittelbar folgenden Zeit nach, etwa wie ein eindrückliches Erlebnis, das die Klienten sich nicht nur bewusst wieder in Erinnerung rufen, sondern dessen Szenen spontan wieder im Bewusstsein auftauchen. Dieser Effekt betrifft vor allem die heilenden Szenen und Interaktionen, zusammen mit der zugehörigen Veränderung des eigenen emotionalen Zustandes, der im Zusammenhang damit unwillkürlich und sofort wieder eintritt. Manche Klienten erweitern von sich aus die Ideale Szene noch auf weitere Situationen: Die Idealen Eltern hätten auch noch in dieser und jener Situation anders gehandelt, als es in der realen Vergangenheit der Fall war.


Interessanterweise verblasst im Vergleich damit die Erinnerung an die Wahre oder Historische Szene, und auch die Motivation, sie zu vergegenwärtigen. Wenn überhaupt werden sie willkürlich ins Gedächtnis gerufen, und eher aus intellektuellem Interesse: „Wie sind wir eigentlich zur heilenden Szene gekommen?“ Im Nachklang der Struktur spielen allenfalls die daraus gewonnenen Einsichten über die entwicklungsgeschichtlichen Quellen gegenwärtiger Symptome eine Rolle. Ihre emotionale Wirkung ist geschwächt oder sogar verloren; häufig ist für die Klienten schon beim Deroling (Entlassung der Rollenspieler bzw. Ojekte aus ihren Rollen am Ende der Struktur) kaum noch nachvollziehbar, als wie übermächtig sie zu Beginn die aufgestellten Stimmen oder negativen historischen Figuren empfunden haben.


Von viel größerer Bedeutung sind häufig die Schlussfolgerungen, die sich aus der Antidoterfahrung ergeben: für den seither daraus folgenden Lebensweg und von nun an in die Zukunft projiziert. Wie eine Klientin ihren Zustand nach ihrer ersten Struktur beschrieb: „Irgendwie sehe ich alles mit einer anderen Brille, in einer anderen Farbe, und es ergeben sich Möglichkeiten, von denen ich zuvor keine Ahnung hatte. Wenn ich tatsächlich als Kind diese Erlebnisse gehabt hätte, dann wäre in meinem Leben vieles ganz einfach und ganz von selbst anders gelaufen“. Auch in die Zukunft wird mit mehr Optimismus und Hoffnung geblickt. Nicht selten strahlen nach der Struktur die Augen der Klienten, und viele berichten über Veränderungen ihrer Sinneswahrnehmung: dass die Welt farbiger und heller aussieht, dass Geräusche intensiver empfunden werden. Auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers kann sich verändern; nach einer Struktur auf Ebene 3 berichtete eine Klientin, sie fühle sich der Erde näher, nicht mehr einen Meter über sich.


Insgesamt deutet die klinische Erfahrung also tatsächlich darauf hin, dass sich die Auswirkungen der Erinnerungen an Ereignisse in der Ursprungsfamilie abschwächen lassen, und dass die alternativen Erinnerungen den erwünschten Einfluss auf die Organisation der inneren „Landkarte“ nehmen können.


      1. Interpersonelle Veränderungen


Wie wirken sich diese individuellen Veränderungen auf gegenwärtige Systeme aus? Werden sie von anderen auch wahrgenommen, verändern sie gegenwärtige Interaktionen – das wäre ja aus systemischer Sicht der Prüfstein für die Nachhaltigkeit der Veränderungen?


Innerhalb einer Pesso-Gruppe oder einer Ausbildungsgruppe ist zu beobachten, dass Übertragungen, Projektionen und gruppendynamische Spaltungen deutlich abnehmen, dass die Mitglieder verständnisvoller und toleranter miteinander umgehen und für sich eine neue Position in der Gruppe und alternative Verhaltensweisen erschließen. Allerdings haben hier ja die Interaktionspartner die Gelegenheit, die Struktur der anderen mitzuerleben, so dass die Veränderungen desjenigen, der die Struktur macht, und die Veränderungen derjenigen, die Zeugen dieser therapeutischen Arbeit werden, miteinander wechselwirken.


Dies bietet insbesondere dann eine große Chance, wenn Paare gleichzeitig an einer Gruppe teilnehmen und so ein tiefes Verständnis für die innere Dynamik des jeweils anderen entwickeln können. Für Paartherapie ist dies auch das optimale Setting (siehe Schrenker und Fischer-Bartelmann 2004). Besonders eindrücklich können sich Paarstrukturen entwickeln, in denen beide Partner parallel zueinander ihre Wahrnehmung einer Konfliktsituation darstellen. Durch Ausschöpfung der differenzierten Techniken der Pesso-Therapie (negative, geliebte, idealisierte, erhoffte Anteile des Partners, Stimmen, Historische Szene) kann hier noch viel detaillierter als bei der Skulpturarbeit die Paardynamik umfassend sichtbar werden. Außerdem wird in der Antidotszene deutlicher als in manchen paartherapeutischen Techniken auseinandergehalten, welche Wünsche und Bedürfnisse eigentlich kindlicher Natur sind und sich passenderweise auf die Idealen Eltern richten, statt in der Übertragung an den Partner herangetragen zu werden, wo sie ihre Befriedigung erfolglos in der Realität suchen.


Zu Veränderungen der Interaktionen mit Personen im täglichen Leben, die nicht die Struktur miterlebt haben, in Familie, beruflichen und privaten Kontakten haben wir als Informationsquelle leider nur die Erzählungen der Klienten selbst. Es lässt sich also nicht immer unterscheiden, welche Phänomene auf Veränderungen ihres Erlebens (Selektion und Bewertung der Wahrnehmungen) zurückzuführen sind, und wo sich verändertes Verhalten der Klienten so auf deren Umwelt auswirkt, dass diese ihrerseits anders reagiert.


Von nahestehenden Personen, die über die Teilnahme an einer Pesso-Gruppe oder Therapie Bescheid wissen, werden sie manchmal direkt darauf angesprochen, ob sie wieder eine Struktur gemacht hätten: Ihre Aura oder Energie hätte sich verändert. Auch kommt vor, dass beipielsweise Kollegen, die über die Therapie nicht informiert sind, eine größere Ruhe und Entspanntheit kommentieren. Gelegentlich kommt es vor, dass Klienten, die zuvor über unerklärlich viele unangenehme Begegnungen mit Fremden berichteten, die ihnen aggressiv entgegentraten, nach der therapeutischen Arbeit auf einmal viele entgegengesetzte Erlebnisse haben: dass ihnen Fremde aufgeschlossen, interessiert und freundlich begegnen, und Bekannte geradezu überschwänglich herzlich.


Von besonderem Interesse sind die Berichte über Veränderungen im gegenwärtigen Familiensystem.


Dann, wenn im Verlauf der Struktur eine Übertragung auf Partner oder Kinder auf ihren wahren Ursprung zurückgeführt werden konnte (negative auf die negativen Anteile der realen Eltern, positive auf die Sehnsucht nach den Idealen Eltern), oder wenn positive wie negative Projektionen zurückgenommen werden konnten, verändert sich häufig die Weise, wie die betreffende reale Person wahrgenommen wird; manchmal ebenfalls bis hin zu veränderten Sinnesempfindungen: eine Berührung fühlt sich anders an, es fließt eine andere Energie. Durch die Entmischung von Übertragung und gegenwärtiger Beziehung wird letztere „realistischer“ wahrgenommen: Der Partner kann klarer als eigenständige Person mit eigenem persönlichen Hintergrund gesehen werden, das Verhalten in Konflikten wird weniger aggressiv oder defensiv. Die Kinder können in ihren eigenen Bedürfnissen klarer erkannt werden, da nicht mehr die unerfüllten eigenen als Projektion oder „blinder Fleck“ die Wahrnehmung trüben. Auf dem Hintergrund des Erlebens der eigenen Befriedigung wird es als weniger auslaugend empfunden, darauf einzugehen.


Aufschlussreich ist die Auswirkung der Erfahrung mit den Idealen Eltern auf das Verhältnis zu den Realen Eltern. Man könnte schließlich vermuten, dass dieser Kontrast die Beziehung zu den realen Personen zusätzlich belasten könnte. Stattdessen ist häufig das Gegenteil der Fall. Manche Klienten berichten, dass sie nach dem Ausdruck ihrer Wut auf einen negativen Teil des Vaters dessen positive Anteile sowohl stärker erinnern als auch in der Gegenwart deutlicher wahrnehmen. Viele fühlen sich entlastet dadurch, dass sie nun die Befriedigung der unerfüllten Kindheitsbedürfnisse nicht mehr vergeblich bei den Realen Eltern suchen. Dadurch werden sie von gegenwärtigen Enttäuschungen bei weitem nicht mehr so getroffen, sondern können viel gelassener und verständnisvoller damit und auch mit den Grenzen und Schwächen der Eltern umgehen.


Mehr noch: Nicht selten berichten Klienten über die Begegnung z.B. mit ihrem Realen Vater nach einer Struktur, sie sei so abgelaufen, als habe er sich während der therapeutischen Arbeit hinter dem Vorhang versteckt und diese miterlebt: Er habe genau das thematisierte verletzende Verhalten unterlassen und sich stattdessen so verhalten, wie sie es sich schon immer gewünscht hätten – und dies, ohne dass der Inhalt der Arbeit zwischen beiden zur Sprache gekommen sei. Will man nicht irgendwelche magischen Auswirkungen von Strukturen auf nicht Anwesende postulieren, so bleiben eigentlich nur zwei Interpretationen übrig: Entweder, die Wahrnehmung des Klienten habe sich durch die Arbeit in dem Ausmaß verändert, dass er zuvor völlig übersehenes Verhalten nun erstmals bemerkt. Das ist zwar aufgrund der Spezifität der in den genannten Fällen thematisierten Verhaltens eher unwahrscheinlich, wäre aber für sich genommen schon ein beachtlicher Erfolg. Oder, zu dieser Interpretation neige ich, durch die Antidot-Erfahrung ist die Form des „Wahren Selbst“ in einem solchen Ausmaß bestätigt worden, dass sie sich in körpersprachlicher Ausstrahlung wie in manifestem Verhalten so deutlich ausgeprägt und die realen Interaktionen so beeinflusst hat, dass nun anstelle der Gegenform die Passform induziert worden ist. In diesem Fall läge ein Beispiel dafür vor, dass die Verformung des individuellen Systems durch das frühere externe effektiv genug verändert werden konnte, dass das neue individuelle System seinerseits das heutige interpersonelle prägen konnte, wir also einen vollständigen Übergang von der einen Weise der Wechselwirkung beider Ebenen zu einer alternativen beobachten konnten.


4. Fazit


Insgesamt bietet die Pesso-Therapie also ausgezeichnete Möglichkeiten, das Wissen um systemische Zusammenhänge auch dann anzuwenden, wenn das ursächlich wirksame System der direkten Therapie nicht zugänglich ist. Insbesondere die Mehrgenerationenarbeit muss nicht mehr bei der Erkenntnis der sich wiederholenden Muster stehenbleiben. Auf dem Umweg über die Behandlung der eigentlich kausal wirkenden Erinnerungen an die in der Ursprungsfamilie erfahrenen Interaktionen können Erinnerungsbilder an alternative Systemstrukturen und Interaktionen gezielt symbolisch konstruiert werden. Der Effekt dieser synthetischen Erinnerungen ist in seiner Wirksamkeit vergleichbar mit demjenigen, den man in den fraglichen Systemen in der Vergangenheit mit einer erfolgreichen direkten Intervention hätte erreichen können.



Literatur:


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Autorin:


Barbara Fischer-Bartelmann, Dipl.-Psych., M.A.

Psychologische Psychotherapeutin, ECP

International Certified PBSP Therapist

Familientherapeutin - Systemische Therapeutin (DFS)

Private Praxis

Köpfelweg 58, 69118 Heidelberg

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