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Werden, wer wir wirklich sind

Eine Einführung in die Pesso-Psychotherapie (Pesso Boyden System Psychomotor)
von Albert Pesso 1999

www.pbsp.com

transkribiert und übersetzt von
Lowijs Perquin und Barbara Fischer-Bartelmann

(LPerquin at wxs.nl, Barbara.Fischer-Bartelmann at t-online.de)

Englischsprachiger Vortrag auf CD von Lowijs Perquin erhältlich

1. Das Ziel der Pesso-Psychotherapie

Das Ziel dieser Arbeit ist es, Menschen dabei zu unterstützen, wirklich zu dem zu werden, der sie sind. Das berührt die Frage: Was bedeutet Veränderung? Denn die Menschen fragen: "Verändert man sich wirklich durch diese Arbeit?" Anfangs dachte ich: "Na klar verändert man sich!" Ich dachte, die Frage beziehe sich auf die Effektivität der Arbeit. Aber sie ging tiefer: "Verändern wir uns, oder verbessern wir wir einfach, wer wir sind?" Die Frage ist also: Haben wir so etwas wie unser Wesen, das vielleicht nicht vollständig gelebt wird und das wir nicht verändern wollen, sondern das wir verwirklichen wollen? Ich würde also gerne über die Frage nachdenken, wie wir entdecken können, wer wir wirklich sind, und wie wir dann zu dieser Person werden können.

2. Wer wir sind, ist ein Ergebnis unserer Geschichte

Aber dann stellt sich die Frage, wer wir wirklich sind, im Gegensatz zu dem, wer wir sind. Denn wer wir sind ist ein Produkt unserer Geschichte. Alles, was uns ausmacht, ist geprägt durch all das, was wir erlebt haben. Aber all das, was wir erlebt haben, hat uns vielleicht nicht gerade dabei unterstützt, zu werden wer wir wirklich sind. Vielleicht hat es uns eher gelehrt, so zu sein, wie die Welt uns haben will und nicht, wie wir wirklich sind. Unsere Erinnerungen beeinflussen also, wer wir sind. Heutzutage fokussiere ich ganz stark auf die Beziehung zwischen dem gegenwärtigen Bewusstsein (das bestimmt, wer wir sind) und dem Einfluss von Erinnerungen auf unser Bewusstsein.

3. Wahrnehmen heißt Erinnern

Ich möchte dies ein wenig genauer ausführen, weil es so abstrakt klingt. "Unsere Vergangenheit beeinflusst unsere Gegenwart", das ist ein alter Hut, das wissen wir schon spätestens seit der psychodynamischen Therorie, natürlich beeinflusst die Vergangenheit die Gegenwart! Aber das gilt sehr viel grundlegender, denn der Akt des Wahrnehmens selbst ist weitgehend ein Akt des Erinnerns. Wussten Sie das? Ich habe viel über Neuro-Anatomie gelesen und bin davon ausgesprochen beeindruckt: Wir nehmen via Erinnerung wahr und nicht nur "was da ist". Wir empfangen Sinneseindrücke auf unserer Netzhaut, und die Impulse werden zu unserem visuellen Cortex weitergeleitet, wo die Geschichte von allem, was wir früher gesehen haben, abgespeichert ist. All diese Informationen werden unwillkürlich aktiviert, und in unserem Bewusstsein erscheint diese Mischung, dieses Amalgam von aktuell und früher Gesehenem, und wir meinen, wir sähen die Gegenwart.

Ein Beispiel aus Antonio Damasios neuestem Buch "The feeling of what happens" macht das sehr eindrücklich klar. Es geht um Bewusstsein, und er beschreibt eine Frau mit Schädigungen in ihrem Gehirn, in einem bestimmten Teil des visuellen Cortex, dort wo die Erinnerung an Gesichter, genauer gesagt die spezifischen Erinnerung an bestimmte Gesichter, lokalisiert ist. Nun kann sie sich an kein Gesicht mehr erinnern, nicht einmal an ihr eigenes. Sie schaut in den Spiegel und sagt: "Ich weiß, das muss ich sein, denn niemand außer mir steht vor dem Spiegel und wenn ich spreche, dann höre ich, dass die Stimme von mir kommt." Sie kann durchaus erkennen, dass es sich um das Gesicht einer Frau in einem bestimmten Alter handelt, so weit wird das Bild auf ihrer Netzhaut verarbeitet, aber diese Information hat keinerlei Verbindung zu irgendeiner Vergangenheit. So bezieht das, was sie sieht, nicht sie selbst ein, denn sie hat keine Erinnerung - keine visuelle Erinnerung - an sich selbst. Nur anhand solcher Schädigungen wird uns überhaupt klar, wie viel das, was wir sehen, mit dem zu tun hat, was wir gesehen haben. Dabei geschieht kein bewusster Akt der Erinnerung, wir wissen das gar nicht, wir glauben, die Wahrnehmung habe es ausschließlich mit dem absoluten Hier und Jetzt zu tun.

Und mehr noch: Nicht nur unsere Wahrnehmung, unsere Persönlichkeit selbst ist Erinnerung. Was geschieht, wenn Alzheimer-Patienten ihr Gedächtnis verlieren? Sie verlieren ihre Persönlichkeit. Man erkennt sie nicht mehr als Person, und sie erkennen einen auch nicht mehr. Wir sollten uns also im Klaren darüber sein, wie fundamental unsere Erinnerungen unser gegenwärtiges Bewusstsein bestimmen und steuern. Wir nehmen dieses so selbstverständlich wie das, was wir tatsächlich dort außen vor uns haben, während wir uns in Wirklichkeit in demselben Moment, wo wir etwas wahrnehmen, unwillkürlich und unausweichlich erinnern.

4. Individuelles und genetisches Gedächtnis

Also: Die Erinnerung sitzt am Schalthebel. Und der Schalthebel bestimmt, wie gut wir in der Gegenwart leben, wer wir jetzt sind, und wer wir jetzt sind wird von unseren Erinnerungen bestimmt. Und das kann weit von dem abweichen, wer wir wirklich sind. Stellen Sie sich das vor: Wer bin ich jetzt? Ich kann sehen, eine Erinnerung wird wachgerufen, ich reagiere infolge der Erinnerung - das ist, wer ich jetzt bin. Und ich bin unzufrieden. OK, ich bin im Hier und Jetzt und es gefällt mir nicht. Warum gefällt es mir nicht? Weil der, der ich wirklich bin, noch immer an die Tür klopft und ruft: "Lass mich rein, lass mich rein!" Erinnern Sie sich an den Tin Man im ´Wizard of Oz´: "Öle mich, öle mich!" Der ist gefroren, nicht wahr? Und das Wahre Selbst ist in meinem Innersten gefroren und ruft "Lass mich rein!", und ich frage mich: "Was ist denn das für ein Lärm in mir?"

Wo soll das denn nun angesiedelt sein, das Wahre Selbst? Es ist ebenfalls eine Art Erinnerung und ich würde Ihnen gerne die These vorstellen, dass es zweierlei Arten von Gedächtnis gibt. Das ist einerseits unser persönliches Gedächtnis: Wir erinnern uns daran, was wir erlebt haben. Dieses Gedächtnis ist zum Zeitpunkt unserer Empfängnis tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt, und was wir erleben wird Stück für Stück dort abgespeichert; das ist unser persönliches Gedächtnis, wer wir im Laufe unseres Lebens werden. Aber dies ist nicht das einzige, was uns beeinflusst. Vielleicht haben wir keinlei Erinnerungen im Wortsinn, wenn wir entstehen, aber wir sind randvoll mit Informationen, Leidenschaften und Trieben, und dies möchte ich unser evolutionäres Gedächtnis nennen. Wer werden mit einer Art genetischer Seele geboren, wenn Sie so wollen. Wir verfügen über dieses unglaubliche Archiv, diesen Schatz des Seins, der aus Herzenskräften danach strebt, zu leben, sich zu erfüllen, er selbst zu werden, und wir haben dann das Privileg, unseren Namen an die Tür dieses Selbst zu schreiben, das nicht nur selber leben will, sondern auch leidenschaftlich danach strebt, mehr Leben zu schaffen. Denn es gibt zwei grundlegende organismische Antriebe: das Überleben des Individuums und das Überleben der Spezies. Wenn es kein Überleben der Spezies gäbe, würde das gesamte System mit unserem individuellen Sterben verschwinden. Also muss es ein Interesse an dem geben, was nach unserem individuellen Tod geschieht. Und dies hat zu tun mit Bindung innerhalb der Familie, Sexualität, sozialer Organisation etc.

Ich postuliere also nun, dass das Wahre Selbst in diesem evolutionären Gedächtnis enthalten ist. Dass in diesen verwickelten Leidenschaften und Antrieben nicht nur die Geschichte der Menschheit enthalten ist, sondern auch die Vorbestimmung dessen, wer du werden wirst dank deiner genetischen Organisation, der Gene, die du von deinen Eltern ererbt hast. Das treibt uns an. Nun entnehmen wir daraus nicht nur unsere persönlichen Antriebe, sondern es ist auch eine Fülle von Informationen über Abfolgen, Reifungsprozesse, Erwartungen an das Leben darin enthalten. Denn das, was als die Verschmelzung zweier Zellen zu einem Individuum beginnt, geht durch Entwicklungszyklen. Dieser Zellhaufen muss wachsen, sich ausdifferenzieren, und es müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit dies in optimaler Weise geschehen kann. Wie bei einem Baum, der aus einem Samen entsteht: Wenn er die richtige Erde, die richtige Temperatur, Nährstoffkombination, Bewässerung und Sonnenstrahlung vorfindet, dann wächst er optimal. Wenn außen nicht die richtigen Dinge vorhanden sind, dann wird er nicht zu seinem wahren Selbst; er wird zu dem, was er erreichen konnte unter den Umständen dessen, was er von der Welt bekommen oder nicht bekommen hat. Es gibt also dieses Programm eines Reifungszyklus in dem Samen, und wenn die Bedingungen optimal sind, dann entsteht dieser herrliche Baum oder welche Pflanze auch immer. Übrigens: Was macht dieser Baum? Er produziert Samen für die nächste Generation, also geht es auch für ihn nicht nur um das Überleben des Selbst, sondern um das Überleben der Spezies, und so reift er und trägt Früchte. - Nun, auch wir haben einen Zyklus der Reifung und Produktivität, und bestimmte Dinge müssen zu diesem Zweck mit uns geschehen, und auch hierfür sind innerlich der Zeitraum und der Rhythmus vorgesehen, in dem sie geschehen sollen. Ich formuliere es manchmal so: Unsere Entwicklungsbedürfnisse müssen einer inneren Vorlage entsprechend erfüllt werden, die auch vorsieht, dass dies zur rechten Zeit geschieht, im richtigen Alter und durch die richtigen Personen im angemessenen Verwandtschaftsverhältnis. Das heißt also, dass in bestimmten Zeiträumen unserer Entwicklung bestimmte Dinge von außen mit uns geschehen müssen, damit sich unser Leben erfüllen kann. Und dies kann nicht einfach durch irgend jemanden geschehen, sondern durch bestimmte Arten von Figuren, die zu unserer inneren Erwartungshaltung passen. Wir sind mit dieser Erwartungshaltung geboren, aber wir sind ziemlich plastisch und variabel und können sogar dann überleben, wenn bestimmte Dinge gar nicht geschehen, oder nicht zur richtigen Zeit, oder in einer unpassenden Beziehung. Wir kommen schon zurecht, aber wenn wir das Optimum erhalten, entsteht ein inneres Gefühl von Freude, Befriedigung, Sinngehalt und Verbundenheit. Und dieses Gefühl entsteht, wenn eine Passung zu unserer organismischen Erwartung besteht. Dann entwickelt sich diese wundervolle Belohnung in Form unserer Endorphine und Encephaline: Freude, Befriedigung, Sinngehalt und Verbundenheit. Aber wenn die Passung nicht besteht, oder je weniger sie besteht, entsteht Schmerz statt Freude, Frustration statt Befriedigung, Verzweiflung statt Sinngehalt und Entfremdung statt Verbundenheit.

5. Genetische Entwicklungsaufgaben

Da ist nun also dieser innere Antrieb, dass die erwarteten Interaktionen zur richtigen Zeit mit den richtigen Personen im angemessenen Verwandtschaftsverhältnis geschehen, mit dieser herrlichen Belohnung dafür. Und diese Belohnung und diese Art Wohlgefühl lassen uns von innen her wissen, ob es passt oder nicht. Fühlt sich die Welt richtig an? Und wenn es nicht stimmt, haben wir all diese anderen Reaktionen und dies wird zur Geschichte unseres Lebens. Wir haben Erinnerungen an Frustrationen grundlegender Entwicklungsbedürfnisse, und auf die dadurch geprägte Art und Weise werden wir in Zukunft die Welt sehen: vom Dort und Damals her. Und vielleicht suchen wir noch immer nach der Befriedigung dieser Bedürfnisse.

Lassen Sie mich direkt zu dem kommen, was ich für die Antriebe, die Grundthemen, die Erwartungen, die Schemata, die Aufgaben unseres organismischen, genetischen, evolutionären Wahren Selbst halte - ich benutze viele verschiedene Ausdrücke, um es zu beschreiben. Sie könnten dazu sagen: das "Tao" unseres Wahren Selbst, die Art und Weise, wie Sie wirklich Sie selbst sein können. Und dies ist keine philosophische Abstraktion, es ist niedergelegt in unseren Genen. Es ist eine Art genetisches Tao, wie es mir scheint. Nach einem ganzen Menschenleben, in dem ich mich mit diesen Dingen beschäftigt habe, halte ich folgende für die grundlegenden Entwicklungsaufgaben:

Unsere grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse müssen erfüllt werden, wie gesagt im richtigen Alter und im Rahmen des richtigen Verwandtschaftsverhältnisses. Das ist der erste Schritt, und es ist eine umfassende erste Aufgabe.

Die zweite ist die Aneignung und Integration aller Polaritäten unseres Seins. Das ist nur eine komplizierte Weise auszudrücken, dass wir unser Selbst vollkommen in Besitz nehmen sollten. All die Dimensionen der Polarität, alle Gegensätze, die verschiedenen Teile unserer selbst. Wir müssen sie entdecken und sie integrieren, um eine vollständige, einheitliche Person zu werden. Dies ist ein realer Antrieb und da gibt es vielerlei Komplikationen, und ich will es hier nur ganz einfach zusammenfassen: Wie können wir uns die verschiedenen Anteile unseres Selbst vollständig zu eigen machen?

Der dritte Punkt ist, Bewusstsein zu entwickeln, nicht nur auf einer konkreten Ebene zu existieren, sondern sich des Seins bewusst zu sein, so dass man eine Perspektive hat. Dies schließt ein, eine Geschichte des eigenen Seins formulieren zu können, so dass man nicht nur in einem nonverbalen, sondern in einem verbalen Universum lebt. Nicht nur verfügt man über internalisierte Bilder der Welt (wir haben eine Welt innerer Bilder), sondern man verfügt auch über eine innere Welt von Worten, die die äußere Welt in ein verbales inneres Universum übersetzen und umformen. Das ist ein Teil des Antriebs zur Bewusstseinsentwicklung, zu wissen und zu sein.

Die vierte Aufgabe ist es, diejenige Instanz zu entwickeln, die ich den Piloten nenne. Und die besteht aus mehr als nur zu wissen, es ist der exekutive Teil des Selbst. Derjenige Teil des Selbst, der wahrnimmt, der all die Informationen der inneren Sinne, der Außenwahrnehmung und der emotionalen Reaktionen auf das Wahrgenommene sammelt. In gewisser Weise sitzt er in der Zentrale aller eingehenden Informationen und versammelt all die verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus den verschiedenen Stimmbezirken des Selbst, die möglicherweise zueinander in Opposition stehen. Und dann trifft er eine Entscheidung, er sagt: "Dies ist der Teil, den ich in diesem Moment ausleben möchte. Ich treffe eine Wahl und dann setze ich sie um, übernehme dafür die Verantwortung und handle danach." Es ist also der ausführende Teil des Selbst, die Instanz, die das Heft in die Hand nimmt und aufgrund dieser Leitungsfunktion in Zuverlässigkeit und Verantwortlichkeit handelt.

Ich nenne diese Instanz den Piloten, und zu meinem Unbehagen höre ich, dass dies in vielen Sprachen ein männliches Wort ist. Es ist das einzige, das mir einfiel - vielleicht weil ich ein Mann bin... Aber ich sehe diese Instanz als PräsidentIn der Vereinigten Staaten unseres Bewusstseins. Wir bestehen aus zahlreichen dieser Bewusstseins-Staaten/Zustände (unübersetzbares englisches Wortspiel states-states), aber es gibt eine Stelle, der dies alles gehört, und dies ist der Pilot. Wir sollen also kein Amalgam, sondern eine Einheit werden.

6. Unsere Einzigartigkeit und unsere Entwicklungsmöglichkeiten verwirklichen

Die letzte Entwicklungsaufgabe ist es, die persönliche Einzigartigkeit und Entwicklungsmöglichkeiten zu verwirklichen. Anders gesagt: Frucht zu bringen, analog zu den Samen des Baumes. Das heißt nicht unbedingt, Kinder zu haben, aber es heißt, dass wir etwas hervorbringen, was uns überdauert - nicht aus narzißtischen Gründen, sondern aus dem Grund des zweiten evolutionären Grundmotivs: nicht nur zum Überleben des Individuums, sondern sondern zu dem der Spezies einen Beitrag zu leisten, zum Wert des Lebens, unsere persönlichen Gaben auf dem Marktplatz des Leben einzubringen. Wie alle werden mit unseren je einzigartigen Gaben geboren, unseren Potentialen, und es gibt einen inneren Drang, sie zu verwirklichen. Wenn Sie nicht glauben, dies sei ein innerer Drang, dann warten Sie nur, bis Sie älter werden und sich dann fragen: Habe ich wirklich mein Leben gelebt? Bin ich meiner Berufung gefolgt? War´s das? Und dieser Druck kommt von innen, dass wir uns dazu verpflichtet fühlen. Ich glaube, das ist ein spiritueller Drang.

Ich sage das aus sehr komplexen Gründen, aber ich will es ganz einfach beschreiben, mathematisch sozusagen: Meine persönliche Definition von Gott ist: "Alles Seiende". Ich stelle mir das als etwas Singuläres vor. Und ich denke, "alles Seiende", der gesamte Kosmos, all dies zusammen ist Gott. Und das sage ich so, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass irgendetwas nicht göttlich sein könnte. Es kann also nicht ein Kontrast von "göttlich" und "nicht göttlich" existieren, das ist ein unvorstellbarer Gedanke für mich. Und wenn Sie das gesamte Material des Universums als Gott verstehen, dann können Sie an die Erkenntnisse der Physik und Astronomie über den Urknall denken. Alles, was ist, war einmal ein singulärer Klumpen von Energie, der in irgendeinem Moment anfing, zu expandieren oder zu explodieren oder die Dimensionen von Raum und Zeit zu entwickeln, und von da ab entwickelt sich die Welt. Nicht nur die Welt entsteht in diesem Prozess, sondern in meinem Verständnis beginnt damit auch das Entstehen von Gott. Mir gefällt diese Vorstellung besser als die von einem Gott, der immer war und immer sein wird, Amen, wo alles vorhersagbar und vorherbestimmt ist. Gott ist ein Akt der Evolution. Und dann ist unser persönlicher Beitrag, dass wir nämlich zu unserer eigenen Einzigartigkeit und Entwicklungsmöglichkeit finden, unser jeweiliger Beitrag zum Werden Gottes. Und in diesem spirituellen Sinne will ich diese Entwicklungsaufgabe sehen, nicht als "Ich komme ganz groß raus und verewige meinen Namen". Ich glaube, der wirkliche Antrieb ist ein biologischer, spiritueller Drang, an diesem endlosen Akt des Werdens teilzuhaben. Und das ist der Sinn des Lebens.

Das waren also die Aufgaben unserer Entwicklung oder unserer Existenz: 1. Grundlegende Entwicklungsbedürfnisse, 2. Integration der Polaritäten (mit vielerlei Komplexitäten), 3. Bewusstheit, 4. Pilot, 5. Erfüllung der persönlichen Einzigartigkeit.

7. Grundlegende Entwicklungsbedürfnisse

Nun bin ich bisher nicht im Detail auf die grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse eingegangen und möchte dies jetzt tun. Sie sind, vielleicht auch in dieser Reihenfolge: Platz, wir brauchen das Gefühl, einen Platz auf dieser Welt zu haben; Nahrung, genährt werden; Unterstützung, getragen zu werden; Schutz, abgeschimt zu werden; und Grenzen, definiert zu sein. Diese Bedürfnisse müssen in einer bestimmten Abfolge erfüllt werden. Zuerst im Wortsinne, konkret, als physikalische Fakten. Dann symbolisch oder metaphorisch, durch symbolische Beziehungen. Und schließlich können sie autonom von uns selbst befriedigt werden.

Meine Grundannahme ist, dass wir nicht wirklich autonom werden können, wenn wir nicht zuvor durch diese Stadien einer guten Abhängigkeit gegangen sind. Dass also zuerst jemand von außen ganz konkret diese Dinge für uns tun muss, dann symbolisch, und dass wir dann diese Erfahrung internalisieren und diese Funktionen für uns selbst wahrnehmen können. Sehr oft lernen wir hingegen, diese Dinge gerade aus dem Grund zu tun, weil sie eben niemand da draußen für uns getan hat. Das heißt, wir entwickeln unser Selbst in einer nicht-interaktiven Weise, und darum entwickeln wir aus diesem Grund auch keine Bindungen, kein Vertrauen und keine soziale Einbindung.

8. Detaillierte Darstellung am Beispiel des Grundbedürfnisses nach Platz

Lassen Sie mich ein Beispiel für die konkrete und symbolische Bedürfnisbefriedigung geben, aus der sich Selbständigkeit und Autonomie entwickeln kann. Ich möchte das am Beispiel des Grundbedürfnisses nach Platz tun. Platz im konkreten Sinne bedeutet, dass es ein Zentrum des Platzes ("place center" - Wortspiel mit pla-centa = Plazenta) gibt, und es gibt ein Ding, was innerhalb dieses Platzes entsteht, nämlich den Fötus. Um also einen Platz zu haben, müssen wir im Körper von irgend einer Art von Gastgeber auf die Welt kommen. Man muss ganz konkret in irgendetwas drinnen sein und dieses Innen spüren können. Und das tun wir alle, im Mutterleib. So könnte man annehmen: "Na gut, alle von uns hatten also einen konkreten Platz, warum sagen Sie dann, man muss diese konkrete Erfahrung gemacht haben, das haben wir doch alle!" Aber einige von uns hatten das Pech, einen konkreten Platz in einem Gastgeber, also einer Mutter, zu haben, die uns von vornherein gar nicht haben wollte. So was gibt es schließlich, und mit Sicherheit bekommt der Fötus im Mutterleib diese Tatsache mit. Stellen wir uns vor, die Mutter ist vergewaltigt worden, sie will dieses Kind nicht. Stellen wir uns vor, das Kind wird während eines Krieges auf die Welt, oder wurde von einem gewalttätigen Vater gezeugt, und deshalb wollte die Mutter das Kind nicht. Wie teilt sich das dem Kind mit? Vielleicht versucht die Mutter, es abzutreiben, und das Kind spürt die Erschütterungen oder chemischen Veränderungen; vielleicht teilt sich die Abneigung und Unzufriedenheit mit in der Art, wie die Mutter atmet, in der Herzrate, im Hormonspiegel im Blut. Vielleicht gibt es Auseinandersetzungen und Schläge und das Kind hört diese Attacken - Ungeborene hören Geräusche und Stimmen und reagieren im Mutterleib darauf. Vielleicht gibt es Bomben usw. Das heißt, wir können nicht davon ausgehen, dass allein die Tatsache, im Inneren eines Leibes zu entstehen, schon bedeutet, dass wir mit einem guten Eindruck eines konkreten Platzes aufwachsen, das kann durchaus nicht der Fall sein.

Was wäre als Nächstes ein symbolischer oder metaphorischer Platz? Das Kind wird geboren und muss dann wiederum im Inneren von etwas sein. Wir brauchen also Metaphern, die dieses Darinnensein ausdrücken. Was sind Metaphern von Platz? Wir alle kennen es, dass Eltern sagen: "Du hast einen Platz in meinem Herzen". Das ist eine wunderbare Metapher, dieses pulsierende, warme, saftige Herz, und du bist da drinnen. Das ist eine schöne Metapher dafür, in etwas drinnen zu sein. Oder, weniger pulsierend: "Du hast einen Platz in unserem Leben". Kinder müssen das wissen, aber das gehört in ein späteres Alter. Kleine Kinder bekommen das Gefühl für Platz nicht in erster Linie davon, dass sie in unseren Armen sind (das hat andere Bedeutungen stärker als die von Platz), sondern davon, dass sie im Gesichtsfeld der Mutter sind. Sie leben in den Augen ihrer Mutter. Was meine ich damit? Der Schlüssel hierfür liegt in dem erwähnten Unterschied zwischen dem Bild auf der Netzhaut und dem im visuellen Cortex. Wenn ein Kind seine Mutter ansieht, und die Mutter ihm zulächelt, dann weiß das Kind intuitiv, dass die Mutter nicht nur sein Abbild auf ihrer Netzhaut hat, sondern dass sie gleichzeitig eine Erinnerung daran hat, wie sie das Kind ansieht und es lieb hat. Das Kind lebt also im Gehirn der Mutter, in ihrem Bewusstsein. Das Kind hat einen Platz im Geiste der Mutter, ganz wortwörtlich, und das Kind kann dies an dem Lächeln in ihrem Gesicht sehen. Sie erkennt es, und indem sie es ansieht, empfindet sie die Liebe zu diesem Kind und erinnert sich an ihre Liebe zu ihm, und das Kind hat absolut ein Gespür dafür. Bowlby spricht davon in seiner Bindungstheorie. Das ist symbolischer Platz, metaphorischer, obwohl es so neurologisch basiert ist, dass man es schon fast nicht metaphorisch nennen kann. Aber es ist eine Metapher. Wenn aber das Kind im Gesichtsfeld der Mutter lebt und sie sich weigert, es zu sehen, und sagt: "Geh mir aus den Augen!", dann ist das eine hässliche Sache, das Kind ist dann in einem Vakuum. Es existiert nicht, es existiert nicht in ihrem Geiste. Noch einmal: es geht darum, dass das Kind als eine Erinnerung an das Kind existiert, nicht nur als Abbild auf der Retina. Wenn es nur um dieses Abbild ginge, dann würde es reichen, wenn irgendetwas schauen würde, eine Kamera mit irgend einem Aufbau, aber dann würde das Kind nichts dabei empfinden, das würde keinerlei affektive Reaktion erzeugen.

Nun haben wir also gesehen, was die konkrete und was die symbolische Erfahrung von Platz bedeutet. Die konkrete Erfahrung von Platz hinterlässt in dem Kind das Gefühl, im eigenen Körper daheim zu sein, nachdem es im Körper der Mutter daheim war. Indem das Kind einen metaphorischen Platz im Geiste der Mutter hat, kann es auch ein Bild seiner selbst in seinem eigenen Geiste bilden, es muss das Bild, das die Mutter von ihm hat, internalisieren und kann sich bei sich zu hause fühlen, indem es ein geistiges Bild seiner eigenen Identität hat. Ein solches Kind wächst heran als ein Individuum, das sich zu hause fühlt und ein tiefverwurzeltes Gefühl von Platz in sich trägt, ganz egal, wo es ist. Es hat dieses Gefühl von Platz etabliert: Ich gehöre wo hin, ich passe, ich bin erwünscht, und ich bin zu hause. Wenn Menschen aber dieses Gefühl von Platz nicht gehabt haben, dann gibt es hierfür ganz deutliche Anzeichen, und dieses Defizit hat Folgen.

Ich will hier nur ein wenig ins Detail gehen. Ein Kind, das nicht ausreichend einen Sinn für Platz entwickeln konnte, wird ein Wanderer; ein Wanderer nicht im Sinne eines Nomaden, der immer daheim ist, sondern als ein ewiger Sucher nach einer Heimat, wo man Wurzeln schlagen könnte, als Entwurzelter. Ich stelle mir die Wurzeln, wie sie sich in die Erde graben, sehr ähnlich vor wie die Plazenta, die sich in der Gebärmutter einnistet, beide sind eingebettet. Menschen, die entwurzelt sind, suchen andauernd nach einem Platz, wo sie sich niederlassen könnten, aber sie finden ihn nie, weil sie ihn nie von außen her erfahren haben. Darum sind sie diese heimatlosen Wanderer.

Wenn ein noch grundlegenderes Platzdefizit vorliegt, dann sind sie nicht nur heimatlose Wanderer auf dieser Erde, sondern werden "abgehoben" und haben nicht das Gefühl, dass sie auf diese Erde gehören. Sie denken: "Ich gehöre nicht auf diesen Planeten, ich komme von einem anderen Planeten", und sie sind ein wenig "nach oben" orientiert, und nicht horizontal, der üblichen Weise zu leben. Alles ist "da draußen", und sie sind auch da draußen und denken: "Ich glaube, ich komme vom Mars, denn ich gehöre nicht hier hin, die Menschen sind mir alle fremd, und ich passe nicht hierher." Oder sie denken in anderen Dimensionen: "Ich hätte im 15. Jahrhundert auf die Welt kommen sollen, dies ist das falsche Jahrhundert, ich bin nicht da, wo ich hingehöre." Oder sie geben die irdische Perspektive ganz auf und wenden sich ganz nach oben, zu Gott, und sagen: " Ich bin nicht hier daheim, ich bin bei Gott daheim und das ist der einzig sichere Hafen." Und sie entwickeln eine Art Spiritualität, die ich für ungesund halte, eine Flucht vor dem Leben, und sehen stattdessen Gott, oder vielleicht den Tod, als ihr wahres Zuhause, das sie mit offenen Armen empfängt.

Manche Menschen, die ein schwerwiegendes Defizit an Platz haben, werden suizidal, in einer sehr stillen Weise, denn "der Tod hat immer ein Zimmer für mich frei. Der Tod weist niemanden ab". Für sie ist der Tod der letzte sichere Hafen, wo sie sich vorstellen können: "Hier werde ich angenommen, hier gehöre ich hin." Statt Erleichterung, Erlösung hier auf der Erde und in der Zukunft zu suchen und zu erhoffen, stellen sie sich die Erleichterung im Tod vor, manchmal wie eine Heimkehr: "Ich gehe nach Hause, zurück dahin, wo ich war, bevor ich auf diese Erde kam, und wo noch alles gut war."

Dies sind vorhersagbare Konsequenzen eines Defizits an Platz, und ich könnte analog darstellen, wie es sich mit Nahrung, Unterstützung, Schutz und Grenzen verhält. Alle dieses Bedürfnisse müssen in diesen drei Schritten erfüllt werden, und wenn dies nicht der Fall ist, hat es vorhersagbare Folgen. Die Geschichte dieser Defizite wird zu der Erinnerung, mit der wir leben, die unser Bewusstsein dessen beeinflusst, wie wir in der Gegenwart existieren. Ich wollte nur noch einmal auf diese Verbindung hinweisen.

In gewisser Weise werden unsere Erinnerungen und unsere Geschichte zu unserem Schicksal. Und das hört sich ganz schön lausig an, denn wenn wir sagen: nun, dass ist nun mal meine Geschichte und daran kann ich nichts ändern, was sollen wir dann machen? Und mit diesen Problemen kommen die Menschen in die Therapie.

9. Therapeutische Lösungsansätze

Es gibt also all diese Muster, die wir endlos wiederholen, und dann geht man in Therapie. Und da gibt es viele verschiedene Herangehensweisen. Der Therapeut mag sagen: "Nun, lass uns zurückgehen und gemeinsam diese Geschichte anschauen, das war ganz schön bescheiden, nicht wahr? Also gut, geh durch die Trauer hindurch, und die Trauerarbeit, das ist die Therapie. Du musst all das, was dir gefehlt hat, abtrauern. Und wenn du das alles betrauert hast, dann erlebst du ein wenig korrigierende Erfahrung, und damit wird es dir besser gehen." Die Grundannahme ist also: durch die Therapie wirst du dich besser fühlen trotz deiner problematischen Geschichte. Und viele Therapieansätze versuchen das. Es gibt eine Menge stoischer Lösungen: "Ja, das war mies, aber schau mich nur an: Ich habe einen Weg gefunden, drüber weg zu kommen!" Andere Lösungsansätze sind z.B., die Geschichte anzuschauen und zu sagen: "Also weißt du, du denkst dass deine Geschichte so schlecht war, aber weißt du, du hast die Dinge nur falsch aufgefasst! Schau doch mal, deine Mutter war doch gar nicht so schlecht, wie du dachtest, dein Vater war nicht so schlecht wie du dachtest. Ich werde dir zeigen, dass es in der Tat auch Erinnerungen gibt, die Goldes wert sind. Du dachtest, da ist nur Mist, aber weißt du, da wachsen auch Rosen!" Und der Therapeut zeigt uns, wie wir in der Geschichte graben können und die Edelsteine und Juwelen finden, die wir so dumm waren zu übersehen. Und so finden wir heraus, dass unsere Vergangenheit in Wirklichkeit besser war, als wir glaubten.

Oder es heißt: "Nun, weißt du, du hast das in der Vergangenheit entbehrt, aber mach dir keine Sorgen, du kannst es jetzt bekommen. Heirate eine Mutter, also such dir eine nette Frau aus, und sie wird dich so bemuttern wie du es damals vermisst hast. Oder such dir einen netten Mann, und er wird für dich der Vater sein, der dir fehlte. Du kannst das in der Gegenwart nachholen." Aber das passt nicht zu meinen Annahmen. Es muss im richtigen Alter und mit den richtigen Verwandten passieren. Wenn es im falschen Alter passiert, dann bin ich hier als Erwachsener, ich will heiraten, und in mir ist ein kleines Baby, das "Ma ma, da da da" sagt. Aber von mir wird erwartet, dass ich ein Erwachsener bin, und mein Baby kommt in meiner Paarbeziehung raus, und meine Frau kriegt Probleme. Sie hat es gleichzeitig mit einem Ehemann und einem Baby zu tun, und das klappt nicht. Dann braucht man Paartherapie usw. Das ist also eine Art Lösung, die die Leute versuchen.

Ein anderer Lösungsansatz lautet: "OK, du hast in dir diese unabgeschlossenen Kindheitsthemen. Diese Bedürfnisse gehen nicht weg, diese Entwicklungsbedürfnisse sind hartnäckig, lästig, sie bleiben und klopfen immer wieder an die Tür: ´Wir sind immer noch da, wo sollen wir hin?´ Und sie rumpeln in den Kerkern unseres Geistes und lassen sich einfach nicht vertreiben, also versuchen wir doch, sie im Hier und Jetzt zu befriedigen!" Oder man schlägt den Weg ein: "OK, da ist dieses Kind in dir, setze es hier vor dich hin und versorge es als die Mutter oder der Vater, nach denen es sich sehnt. Hurra, wir haben die Lösung, ich werde selbst diese Mutter / dieser Vater sein!" Aber ist das nicht genau das, was wir schon unser ganzes Leben tun mussten, während unsere Bedürfnisse nicht beantwortet wurden? Wir hatten nicht die Eltern, die wir brauchten, und wir mussten und selbst helfen. Daher glaube ich nicht, dass das wirklich eine Lösung ist, weil es uns in genau diejenige Position bringt, wo wir uns selbst versorgt haben, weil die elterliche Versorgung von außen fehlte.

10. Die Konstruktion neuer, synthetischer Erinnerungen

Da sind wir nun. Ich selbst biete die folgende Antwort an. Irgendwie glaube ich, dass es die einzige wirkliche Antwort ist ... bitte verzeihen Sie diese Behauptung, Sie können sich vorstellen, dass eine eigene Entdeckung wie das eigene "Baby" ist ... Wenn also das Problem darin besteht, dass wir Erinnerungen oder eine Geschichte haben, die unzureichend war und nicht unseren Reifungsbedürfnissen entsprochen hat, dann, so war die Schlussfolgerung, zu der meine Frau und ich vor langer Zeit gelangt sind, dann müssen wir synthetische Erinnerungen konstruieren und dafür eine Bühne schaffen - eine Art Zeitmaschine -, auf der man in der Zeit zurückgehen und noch einmal diese kindlichen Bedürfnisse spüren kann, die die ganze Zeit irgendwo lauern und sich andauernd im Hier und Jetzt Ausdruck verschaffen. Aber anstatt zu versuchen, sie in der Gegenwart zu befriedigen, könnten wir dafür sorgen, dass sie im Rollenspiel von denjenigen Figuren befriedigt würden, die in der jeweiligen Entwicklungsstufe in der angemessenen Verwandtschaftsbeziehung zum Klienten gestanden hätten. In einem Fall, wo ein Mangel an Erfahrung von Platz war, könnte man dieses fehlende Gefühl für seinen Platz nun erleben, und das nicht mit einer beliebigen Person, sondern in diesem Fall mit der "idealen Mutter", wie wir sie nennen (Wir nehmen an, dass verschiedene Verhaltensweisen mit verschiedenen Klassen von Verwandtschaftsbeziehungen verbunden sind). Das ist also unsere Antwort: die Konstruktion einer neuen, synthetischen Erinnerung. Wenn wir davon ausgehen, dass die Erinnerungen unser gegenwärtiges Bewusstsein bestimmen und steuern, und wenn die alte (reale) Erinnerung alles ist, was wir haben, dann finden wir Wege, ihr neue Erinnerung zur Seite zu stellen.

Dies ist eine ergänzende Erinnerung, wir löschen die ursprüngliche Erinnerung nicht aus, um Gottes willen: das sollten wir nicht tun, denn das ist schließlich unsere Lebensgeschichte. Aber wir konstruieren ein zusätzliches Erinnerungsbild, das besser unseren genetisch geprägten Erwartungen an diejenigen Reifungsschritte entspricht, die zu der entsprechenden Zeit hätten stattfinden sollen. Das ist ein wichtiger Punkt, denn man könnte sagen: "Halt mal, ich kann keine idealen Eltern in dieser Erfahrung akzeptieren, denn das wäre illoyal gegenüber meinen echten Eltern, die ich dafür raus schmeißen müsste." Man schmeißt nicht die alte Geschichte raus, man gibt ihr ihren geschätzten Ort und dann fügt man als Ergänzung dieses neue symbolische, synthetische Stück Geschichte bei.

11. Ausgangspunkt: das Verfolgen des gegenwärtigen Bewusstseins

Wie stellen wir dies nun an? Sagen wir: "OK, nun gehe ich zurück und stelle mir vor, ich bin so und so alt, ich entscheide mich bewusst dafür"? Das könnte man wohl machen, nehme ich an, aber über die Jahre hinweg habe ich einen Weg gefunden, den ich für den optimalen halte, vielleicht deshalb, weil ich daran gewöhnt bin. Das Bewusstsein ist, wie gesagt, durch die Geschichte gesteuert, oder anders ausgedrückt: Das gegenwärtige Bewusstsein ist wie ein Stoff, in den die Fäden der Geschichte eingewoben sind. Was scheinbar "Jetzt" ist, ist größtenteils Geschichte. Und meine Weise, meine bevorzugte Weise nach langen Jahren des Experimentierens, ist es, das gegenwärtige Bewusstsein minutiös zu verfolgen ("microtrack"), die Klienten wie in der Demonstration gestern genau von dort ausgehen zu lassen, wo sie sich befinden. Ich werde Ihnen die Technik des "Microtracking" vorstellen, wie man das macht, dort anzufangen, wo die Klienten sind, wie sie das "Jetzt" wahrnehmen, was sie über das "Jetzt" denken, und wie man das verfolgt. Ich erkläre Ihnen, was ich damit meine.

Im Microtracking machen wir die Architektur und Organisation des Bewusstseins sichtbar, so dass erkennbar wird, woraus es besteht. Dies wird uns zu den Erinnerungen führen, aus denen es besteht, und dann können wir gezielt neue Erinnerungen konstruieren. Wir beginnen also im absoluten Hier und Jetzt und wir verfolgen so genau wie möglich die beiden grundlegenden Dimensionen des Bewusstseins. Ein Teil des Bewusstseins sind unsere emotionalen Reaktionen, von Augenblick zu Augenblick zu Augenblick zu Augenblick. Unsere Emotionen sind ja, wie der Titel von Damasios Buch so zutreffend sagt, die ´Wahrnehmung dessen, was geschieht´, ein anderes Wort für unser Bewusstsein. Die meisten Menschen glauben, Bewusstsein sei Denken. Damasio sagt, es ist Emotion, für ihn ist Bewusstsein eingebettet im "Bauch", im Erleben von etwas. Denn in demselben Augenblick, wo wir etwas wahrnehmen, reagieren wir unmittelbar darauf. Unser Körper reagiert unablässig auf das, was wir sehen, und bereitet sich darauf vor, auf das Gesehene auf optimale Weise zu reagieren. Dafür ist unser Bewusstsein da, um uns zu helfen, mit der äußeren Realität umzugehen. Wie nehmen etwas wahr, und zack, reagiert der Körper, und die Reaktion ist ein emotionaler Zustand. Eine andere seiner Aussagen ist: Es gibt keinerlei Bewusstsein ohne Emotion, sie sind absolut miteinander verbunden, denn wenn man sich die neurologischen Verschaltungen ansieht, ist Bewusstsein keinesfalls Kognition, sondern immer Emotion. Die Emotionen sind das von der Evolution entwickelte Werkzeug, um mit der äußeren Welt umzugehen. Dafür sind Emotionen da. Das hört sich eigenartig an, wir sagen: "Die Emotionen sind uns im Weg", und die Evolution erwidert: "Hey, hier ist diese wundervolle Gabe, dein Leben in den Griff zu bekommen und zu ordnen!" Bewusstsein ist ein Gefühl, und es beinhaltet Emotionen.

12. Bezeugen von Emotionen und affektiven Veränderungen

Was wir also im Microtracking verfolgen sind die Emotionen, wie sie quicklebendig über den Körper flackern, besonders über das Gesicht. Auf dem Gesicht zeigen sich unmittelbar die emotionalen, affektiven Veränderungen. Wir führen hierfür die so genannte "Zeugenfigur" ein, das ist eine hypothetische Figur, die dein Gesicht und deine gesamte Haltung sieht und einordnet. Ich frage mich, welche Emotion es wohl ist, die du innerlich empfindest, und die sich im Moment auf deinem Gesicht zeigt. Manchmal hat jemand ein Gefühl und hat keinen Namen dafür, und manchmal hat jemand ein Gefühl, das sich schon auf dem Gesicht zeigt, von dem er aber noch nichts weiß, weil er ein wenig dissoziiert oder depersonalisiert ist. Nur als ein Beispiel hierfür: Jemand sagte: "Ich habe in einem Restaurant gegessen und dachte, es regnete, weil Wasser in meine Suppe fiel." Und ich fragte: "Wieso hat es in dem Restaurant geregnet?", und ihm wurde klar, dass er geweint haben musste, und dass es seine eigenen Tränen waren. Menschen sind dazu fähig, dass ihre Seele und ihr Körper weinen, und ihr Bewusstsein nichts davon weiß. So können wir uns abspalten. Aber das Gefühl zeigt sich auf dem Gesicht, in diesem Beispiel in Form der Tränen.

Wenn wir nun also eine Zeugenfigur einführen, dann würde sie sagen: "Ich sehe, wie viel Trauer du empfindest" oder "wie traurig du bist". Der Grundgedanke des Bezeugens ist es, die Emotion zu benennen, was sie aus der alleinigen Präsenz im limbischen System heraus nimmt und auch im Cortex präsent macht, und sie dann in den Kontext ihres Auftretens stellt: "Ich sehe, wie traurig du bist, wenn du an dies oder das denkst, dich an dies oder das erinnerst." Die Zeugenbotschaft benennt also den Affekt und stellt ihn in seinen Kontext. So schafft sie ein Bewusstsein dafür und das Wissen: aus diesem Grund fühle ich die Emotion. Manchmal fühlen Klienten eine Emotion und wissen nicht, warum, wo sie her kommt, und diese Intervention gibt diesem Teil des Bewusstseins Kontur.

13. Externalisieren von Gedanken

Die andere Seite des Bewusstseins sind die Gedanken, die uns unablässig durch den Kopf gehen, unserer innerer Kommentar zu unserem Leben, als ob wir einen inneren Erzähler oder Geschichtsschreiber hätte, der alles benennt und in einen verbalen Erzählzusammenhang stellt. Wir können gar nichts dagegen tun, das geschieht die ganze Zeit. Manchmal heißt es beim Meditieren, man müsse das Geschnatter abstellen, aber das gehört zum Bewusstsein dazu: das Benennen, Klären, Definieren der Ereignisse, wie sie auf uns einströmen. Unsere Gedanken destillieren daraus das bedeutungstragende verbale Territorium all dessen, was wir erlebt haben. Wenn also jemand in unserem therapeutischen Setting ist und wir das Microtracking machen, hat er einerseits Gefühle, und der Zeuge sagt so etwas wie "Ich sehe, wie traurig du bist, wenn du an den Tod deines Vaters denkst", und die Person sagt "Ja!", und die Trauer verstärkt sich, und dann sagt sie vielleicht: "Aber ich habe darüber schon zehn Jahre lang geweint, ich sollte endlich damit aufhören!" Das ist ein Gedanke. Also nehmen wir diesen Gedanken und setzen ihn nach außen als eine Stimme die sagt: "Du hast darüber schon zehn Jahre lang geweint, du solltest endlich damit aufhören!"

Warum tun wir das? Weil die innere Reaktion auf unsere Gedanken der auf hypnotische Suggestionen gleicht. Wir wissen nicht, dass sie unser Leben regieren, aber sie tun es. Wir leben den Werten entsprechend, die in unseren Gedanken eingebettet sind. Entstanden sind diese Gedanken und Werte aus Verhalten. Wir haben bestimmte Ereignisse erlebt, die uns bestimmte Dinge mitgeteilt haben, und dann sind wir zu Annahmen gekommen: Der Grund, warum diese Dinge geschehen, ist der und der. Du weinst zu viel, zum Beispiel. Und dann wird das zu einem Gedanken, der in Zukunft unser Verhalten bestimmt. Wenn wir diesen Gedanken nach außen stellen (als Stimme), dann ist er nicht länger im Gehirn eingebettet, er ist sichtbar ein Kommando von außen, und unsere Seele hat die Chance, dagegen zu rebellieren, weil er nicht mehr nur innen in uns ist. Außerdem gibt uns das die Gelegenheit, den Gegensatz zwischen Gefühlszuständen und Kognitionen wahrzunehmen. Im Microtracking verfolgen wir von Moment zu Moment all die verschiedenen Veränderungen, all die Stückchen Information, die sich auf dem Körper zeigen, so wie er in der Gegenwart lebt. Und das gibt dem Klienten einen Eindruck von Mustern und Ordnung in ihrem Bewusstsein. Sie beginnen, wiederkehrende Muster zu entdecken. Und in dem Moment, wo die Muster deutlich werden, beginnt sozusagen die Suche im Archiv der Lebenserfahrungen, man fragt sich: "Wo habe ich dieses Muster schon einmal gesehen?" Und dann macht es ratter, ratter, pling, und dann kommt eine Erinnerung. "Das Muster kommt von damals, als ich zehn war, ich erinnere mich dass damals genau das gleiche passiert ist." Wir finden ein Muster in der Gegenwart, und es wird zu einer Erinnerung an unsere vergangene Geschichte die nun ein Bestandteil unseres Bewusstseins ist, obwohl wir dies zuvor nicht wussten, wir lebten und regierten nur ihr entsprechend. Können Sie sich diese Schritte vorstellen?

14. Bühnen und Bildflächen

Wenn Sie noch ein wenig Geduld haben für einen weiteren Teil Theorie, bringt uns dies zu einer weiteren interessanten Dimension von Bewusstsein, Verhalten und Erleben.

Diese Dimension möchte ich unter der Überschrift Bühnen und Bildflächen (Bildschirme) betrachten. Das hört sich wie im Theater an: ´Bühnen und Bildflächen´ , ´Schauspiel und Film´. Aber dort finden die Ereignisse statt, auf Bühnen und Bildflächen. Und ich möchte über die verschiedenen Bühnen reden. Das gehört an diese Stelle, weil es mit dem Verfolgen der Erinnerungen und dem ganzen Microtracking zu tun hat: Wir versuchen, so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen, wie das ganze vor sich geht, und dieses Wissen dem Klienten zugänglich zu machen, und es gibt viele verschiedene Orte, wo sich die Informationen ansammeln und zur Verfügung stehen. Und diese werde ich mit Ihnen ansehen, wenn ich mit Ihnen arbeite: Da ist zunächst einmal die Bühne des scheinbaren Hier und Jetzt. Das ist diese Bühne, hier in diesem Raum, und ich nenne sie das scheinbare Hier und Jetzt, weil nach bestem Wissen und Gewissen sich alles hier und jetzt abspielt. Sie sitzen hier und hören zu, ich spreche, und wir interagieren, ich gehe vielleicht dort hinüber und schüttle Hände, und es schaut so offensichtlich aus, so konkret, es kann doch nichts anderes sein. Aber denken Sie daran, wir sagten zuvor, dass alles, was sich vor unseren Augen abspielt, auch Erinnerungen wachruft. Der eine erlebt dieses Hier und Jetzt vielleicht so, dass er denkt: "Ich komm vom Land und bin hier in dieser großen Stadt", und er wird entsprechend reagieren, und die andere denkt "Ich bekomme ein Kind und das wird meine Zukunft prägen", also ist das Hier und Jetzt für jeden einzelnen konditioniert durch irgend eine Art inneres Leben, welches er oder sie in Verbindung bringt mit dem Hier und Jetzt. Das Hier und Jetzt hat also für jeden von uns eine Menge "dann und dort" in sich, und daher nenne ich es das scheinbare Hier und Jetzt. Die Dinge scheinen sich jetzt abzuspielen, aber jeder hat ein Innenleben, das vollständig einfärbt, wie er sich im Hier und Jetzt verhalten wird. Und das geschieht nicht notwendig bewusst. Jeder sagt: "Das ist doch nur hier und jetzt, es ist doch offensichtlich, das es nur hier ist", aber es sind die Bildflächen von jedem einzelnen am Werk. Wir sind uns dieser individuellen Bildfläche aber nicht bewusst, es scheint "nur" die Realität zu sein.

Ich möchte mich nun einer andern Bühne zuwenden. Das ist die Bühne unseres Körpers. Wenn Sie wollen, können Sie sich den Körper als eine Plattform vorstellen, auf der Schauspieler "auftreten" und die Schauspieler auf dieser Bühne sind die Empfindungen und Gefühle in unserem Körper. Erinnern Sie sich, ich sagte, dass wir im Moment der Wahrnehmung eine emotionale Reaktion haben. Aber manchmal fühlt sich diese nicht wie eine emotionale Reaktion an, nur der Körper agiert so, als ob eine emotionale Reaktion da wäre. Die Person empfindet diese Emotion nicht, sondern nur eine Körperempfindung, wie bei den Schmerzpatienten: sie haben vielerlei Schmerzempfindungen in ihrem Körper, aber meist sind diese Empfindungen Emotionen und haben keine physiologischen Ursachen. Was also auf der Bühne unseres Körpers auftritt und tanzt sind unsere Emotionen, bevor wir sie als Emotionen wahrnehmen und bevor sie in Aktionen umgewandelt werden. Da mag ein Zittern in unseren Beinen sein, ein Kribbeln in den Fingerspitzen, kalte Füße, Herzklopfen. Alle diese körperlichen Empfindungen sind Emotionen, die auf der "Bühne unseres Körpers" tanzen. Dies ist eine der Bühnen. Das haben Sie gestern in der Demonstration gesehen: Die Klientin hatte irgendwelche Empfindungen in ihrer Brust, da war zunächst keinerlei Emotion, aber man kann das in einer Art und Weise organisieren, dass Aktion daraus wird und dann kann die Emotion dahinter herauskommen, an der Stelle kam die Scham.

Ich verfolge also das scheinbare Hier und Jetzt, ich verfolge die Zustände des Körpers, was sich auf dem Körper abspielt, einschließlich des Gesichtes, die Gefühlsausdrücke im Gesicht. Das sind zwei der Bühnen. Dann gibt es eine dritte Bühne, über die ich als nächstes reden möchte, und das ist die Bühne, auf der sich die Therapie abspielt. Die geschieht nicht im scheinbaren Hier und Jetzt, sie geschieht auf einer speziellen Bühne, die ich gleich definieren werde. Aber bevor wir zu dieser speziellen Bühne kommen, möchte ich über eine andere Bildfläche reden, und das ist die Bildfläche des geistigen Auges, die Bildfläche, auf der wir uns bewusst an etwas erinnern: Wir sehen es vor unserem geistigen Auge. Sie erinnern sich, dass ich zuvor sagte, dass Bewusstsein immer eine Reaktion auf Wahrnehmung ist. Ich sehe also etwas und reagiere, und das wird in derselben Intensität geschehen, wenn ich etwas vor meinem geistigen Auge sehe, wie wenn ich auf etwas reagiere, was ich in der Realität sehe. Dies ist also eine sehr machtvolle Bildfläche. Manchmal reagieren Menschen und man glaubt, die Reaktion wäre die auf etwas Äußeres, aber in Wirklichkeit reagieren sie auf dieses Innere. Wir müssen also die Bildfläche des geistigen Auges verfolgen, wo die Klienten im Inneren etwas sehen. Ihr Körper reagiert darauf so, als ob es tatsächlich präsent wäre, und in der Tat reagieren wir auf unsere inneren Bilder so, also ob sie in der Realität anwesend wären. Man könnte das beinahe einen Flashback nennen, wenn man beispielsweise mit Trauma arbeitet, aber es ist kein Flashback, wir erinnern uns zwar an etwas, aber das geschieht unter unserer Kontrolle.

15. Historische Muster verfolgen

Ich schlage Ihnen vor, dass sie bewusst an ... an Ihre Mutter denken. Holen Sie ihr Bild hervor vor Ihrem geistigen Auge. Können Sie das tun? Oder denken Sie an irgendjemanden, den Sie lieben. Lassen sie das Bild in sich entstehen. Was geschieht, wenn Sie dies tun? Sehen Sie sie vor sich? Und der Körper reagiert je nach dem, wie Sie der Person gegenüber empfinden, nicht wahr, im gleichen Moment. Das ist die Bildfläche des geistigen Auges. Und das verfolge ich in der Arbeit. Sie erinnern sich: Ich sagte, dass ich das gegenwärtige Bewusstsein verfolge, und dass dann plötzlich ein Muster deutlich wird, und wir sagen: "Oh ja, ich erinnere mich, damals in meiner Geschichte..." Stimmt´s? Sobald sich jemand an ein vergangenes Geschehen erinnert, taucht das Gesicht der Mutter, des Vaters, der Schwester, des Bruders, des Onkels, des Freundes auf und der Körper reagiert darauf. Nun, wo machen wir diese Information sichtbar? Wir machen sie auf der Bühne der Struktur sichtbar. Wir schaffen einen mythischen, rituellen Raum, der nur scheinbar im Hier und Jetzt des Therapieraumes dargestellt wird, sich aber in der Zeit bewegt, und er ist voller Leute, die nicht aktuell in der Gegenwart da sind. Jemand sieht seine Mutter vor sich und hat eine innere Reaktion auf der Basis seiner Geschichte mit ihr, die aktiviert wurde, und ich schlage dieser Person vor: "Suche Dir jemand im Raum aus, der diese Mutter darstellen könnte", so dass das, was der Klient vor seinem geistigen Auge sieht, auch hier im tatsächlichen Raum sichtbar wird. Wir sorgen also dafür, dass der tatsächliche Raum wie eine virtuelle Erweiterung der Neurologie und des Gehirns des Klienten wird. Was auf der Bildfläche innen ist, wird also nun auch auf der Bühne hier außen sichtbar, es ist ein tatsächliches Äquivalent. Das nennen wir den Übergang zur "Historischen Szene", wir machen die Geschichte sichtbar, als ob sie sich jetzt abspielte, weil die Person sie vor sich sieht und mit ihrem Körper darauf reagiert und all dies für das gegenwärtige Bewusstsein von Bedeutung ist, von dem wir ausgegangen waren. Wir hatten das Bewusstsein und die Muster verfolgt, und das hatte - zoop - zu dieser Geschichte geführt, nun stellen wir diese Geschichte dar.

Wir stellen dies aus zwei Gründen dar: Erstens, damit wir ein klares Bild davon bekommen, worum es bei diesem Ereignis ging. Wir bekommen mehr Klarheit und Einsicht: Wenn dort eine Mutter, ob war sie übergriffig war, ob sie krank war, was auch immer los war. Man sieht das ganze Muster absolut klar vor sich, und der Körper reagiert auf diese Wahrnehmung natürlich intensiv. Wenn der Klient vor ihr Angst hatte, dann wird diese Furcht aktiviert und zeigt sich im Körper, wenn er sie liebte, dann wird der Impuls kommen, sie zu umarmen, wenn er sie hasste, wird der Impuls kommen, sie anzugreifen, all das spielt sich im Körper ab. Und wir erlauben diesen Impulsen, aktiv zu werden, so dass sich das alles nicht nur auf der Bühne des Körpers bewegt, sondern dass der Körper sich auf dieser Bühne (der Struktur) bewegen kann, so wie wir es gestern mit der Furcht und der Aggression gemacht haben. Und wenn wir dies machen, welche Emotion auch immer sich ausdrückt, dann arrangieren wir das so, dass die Person gegenüber in einer dazu passenden Weise reagiert, einer Weise, die diesem Ausdruck Glauben schenkt, und ihm Befriedigung verschafft. Wir nennen das "Akkomodation".

Dieser Teil der Arbeit hat ein wichtiges kathartisches Element in sich, Katharsis in dem Sinne, dass manchmal im Inneren Dinge gefroren sind, die endlich ausgedrückt werden müssen, so dass sie nicht mehr gefroren sind und endlich wieder in Bewegung kommen. Aber wir sollten vorsichtig sein mit der Annahme, Katharsis sei ein Element sine qua non und die Basis der Therapie. Sie ist nur ein kleiner Teil des therapeutischen Prozesses. Leicht wird auf dem Hintergrund überkommener medizinischer Vorstellungen die Katharsis zur Basis der Heilung, denn die alte Denkweise war, dass der Patient Dämonen, Teufel, bösen Geister oder was auch immer in sich habe und das diese entfernt werden müssten. So gab es Aderlässe oder Einläufe, Purgierungen oder wer weiß was, um das Schlechte herauszubekommen. Und manche Leute glauben, dass es auch in der Psychotherapie darum gehe. Da sind viele schlechte Gefühle in mir, und ich muss sie herausbekommen, damit es mir besser geht. Aber dann hat man noch immer mit derselben Geschichte zu tun, nichts hat sich verändert, außer dass man die Emotionen ausgedrückt hat. Und diese Leute, die sich davon Hilfe versprechen, sind endlos damit beschäftigt, sich dieser Gefühle zu entledigen, und sie stellen immer wieder fest, dass sie nicht damit fertig werden: Da ist immer noch Trauer in mir, da ist immer noch Wut, wie kann ich sie loswerden? Aber der Grund dafür, dass es ihnen noch immer nicht besser geht, ist, dass sie sich nie eine neue Erinnerung verinnerlicht haben. Von dort kommt die Heilung: von der neuen Erinnerung, denn die Erinnerung ist es, die die miese Gegenwart bedingt, nicht etwas, dessen man sich entledigen könnte, um sie weniger mies zu machen.

16. Antidot: Die Konstruktion einer neuen synthetischen Erinnerung

Wir können stattdessen die historische Szene nutzen, um zu sehen, was damals in dieser alten Geschichte gefehlt hat. Wenn wir erkennen, dass beispielsweise die Befriedigung eines Grundbedürfnisses gefehlt hat (ich bin nicht in die Komplexität der anderen Bereiche gegangen: der Intergration der Polaritäten, der verschiedenen Anteile meiner selbst, die ich nicht entwickeln konnte, oder ob ich bestimmte Dinge nicht wissen oder bennenen durfte, oder keine Selbststeuerung entwickeln, oder mich nicht selbst verwirklichen). Wir sehen uns also die alte Geschichte an, und benutzen unser theoretisches und diagnostisches Wissen, um festzustellen, was genau damals fehlte. Und das gibt uns die Gelegenheit, eine neue Erinnerung zu konstruieren. Wenn damals also eine Mutter im Sterben lag, brauchen wir eine Mutter, die gesund gewesen wäre. Wenn der Vater im Krieg war, ist der Ideale Vater präsent und an der Erziehung beteiligt. Wir sagen also nicht, dass es dem Klienten trotz dieser Geschichte besser gehen soll. Wir sagen, wir erschaffen eine neue Geschichte. Denn deine Geschichte ist es, die sich verändern muss, und zwar in der Weise, dass sie deinen evolutionär festgelegten Entwicklungsbedürfnissen besser entspricht.

Es geht also nicht um eine beliebige alternative Geschichte. Wir nutzen als Leitlinie das Verlangen unserer Seele nach Ganzheit. Andernfalls könnten wir irgendeine fantastische Geschichte erfinden, aber die heilende Geschichte muss aus diesen tief verwurzelten organismischen Antrieben hin zur Erfüllung entwickelt werden. Und um diese Erfüllung zu gewährleisten, haben wir diese Idealen Figuren. Aber, wie gesagt, das Ganze muss in der richtigen Altersstufe geschehen. Auf dieser zeitlich beweglichen Bühne können wir dorthin gehen - es schaut so aus, als würde es hier und jetzt geschehen, aber wir sorgen dafür, dass es das angemessene Dort und Damals ist. Zu verschiedenen Momenten der Demonstration gestern war die Klientin zwei, oder sieben, oder dreizehn, und in jeder dieser Altersstufen konnte sie all die Körperempfindungen spüren, und wie von außen damit hätte umgegangen werden sollen. Und das muss durch die geeignete Person geschehen: Wenn die Mutter fehlte, dann brauchen wir eine präsente Mutter. Manchmal sagen die Klienten nämlich: "Meine Mutter war ja nicht da, also wünsche ich mir einen Vater, der sie in ihren mütterlichen Funktionen ersetzt hätte." Natürlich können wir damit überleben, aber dann haben wir noch immer keine Mutter. Wir sorgen also immer für diese Art der Symmetrie: Wir brauchen dann eine Ideale Mutter, und die Ideale Mutter soll so sein, als ob wir von neuem auf die Welt kämen, aber diesmal von einer Mutter geboren, die all die Eigenschaften hat, die sie braucht, um uns in der richtigen Weise zu bemuttern.

Auf dieser Zeitlinie gehen wir also in das angemessene Alter zurück mit der jeweils angemessenen Figur, und dann ist es nicht bloß eine Scharade, denn die Klienten machen tiefe und echte Gefühlserfahrungen, und sie können diese als Erinnerungsbild behalten und mit dem ursprünglichen Defizit in Verbindung bringen. Wir können die Erinnerung an das Defizit nicht über Bord werfen, denn sie ist ein Teil unseres Charakters, aber wir können diese neue Erinnerung damit verknüpfen. Wenn wir also daraufhin die Welt wahrnehmen und die alte Erinnerung und die alten Muster aktiviert werden, so verfügen wir in Verbindung damit auch über die neue Erinnerung und alternative Weisen, die Gegenwart wahrzunehmen. Wir haben das immer wieder festgestellt: Wenn wir eine glaubhafte neue Erinnerung konstruiert haben, dann verändert sich die Wahrnehmung der Gegenwart, weil, wiederum, die Wahrnehmung der Gegenwart durch die Erinnerungen an die Vergangenheit bestimmt wird. Und das ist der letzte Teil einer Struktur: Wir helfen dem Klienten, nicht nur von der Idealen Figur sondern von sich selbst in Beziehung zu ihr ein neues, kinaesthetisches, sensorisch-motorisch-auditiv-visuelles Erinnerungsbild zu machen und zu absorbieren. Wir haben also nicht nur die Erinnerung an uns selbst mit ..., sondern eine Erinnerung an die Interaktion selbst, denn so funktioniert das Gehirn, dass wir Interaktionen repräsentieren. Wir machen neue Repräsentationen von Interaktionen, und dies heilt die alten Repräsentationen und verändert die Art und Weise, wie wir die jetzige Welt sehen. Sie sorgen dafür, dass wir eher eine Welt voller Möglichkeiten, Hoffnung, Freude, Befriedigung, Sinngehalt und Verbundenheit sehen, und nicht mehr so sehr die Verzweiflung, Frustration, den Schmerz und die Entfremdung der alten Erinnerungen.

Das war's. Ich glaube, ich bin mit meiner Geschichte am Ende.